Erinnerungen. Bruno Kreisky

Erinnerungen - Bruno Kreisky


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       Anstatt in die Tanzschule ging’s zur Sozialistischen Jugend: Ausflug zum Völkerballspiel Ende der Zwanzigerjahre.

      Ständig strebte man nach neuen Formen des Zusammenlebens. Auch wenn wir im grundsätzlichen übereinstimmten, wurden dennoch harte Diskussionen geführt, bei denen ich freilich ein sehr stiller und passiver Teilnehmer war, denn es gab ja die »Großen«, allen voran Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda, den redegewaltigen Alex Weissberg, der später in der polnischen Widerstandsbewegung als Oberst Cybulski aktiv war, Professor Victor Weisskopf, einen der CERN-Direktoren und Bürgermeister von Los Alamos, ferner den berühmten Mathematiker Hans Motz, der dann in Oxford lehrte, Hans Zeisel in Chicago und viele andere, die später einen großen Namen hatten.

      Dieser Gruppe von Intellektuellen meist jüdischer Herkunft stand eine andere Gruppe gegenüber: die Söhne aus Arbeiterfamilien. Sie mussten sich durch besondere Tüchtigkeit bewähren, weil vielen das Studium sonst nicht möglich gewesen wäre. Da sie nicht wie andere über Beziehungen oder über Familienbande verfügten, hatten sie es von Vornherein sehr viel schwerer. Die meisten von ihnen waren Techniker, und dies lag sehr oft in ihren Familien begründet: Es war fast selbstverständlich, dass der Sohn eines Metallarbeiters Ingenieur oder der Sohn eines Bauarbeiters Architekt wurde.

      In meiner Mittelschülergruppe gab es zwei junge Leute, die später eine gewisse Berühmtheit erlangt haben, aber in sehr verschiedenartiger Weise. Der eine war mein Mitschüler, der spätere SS-Sturmführer Felix Rinner. Er war einer der Unbelehrbarsten und ist vor einiger Zeit als unverbesserlicher Nazi gestorben. Der andere ist der heute sehr bekannte Dichter Jura Soyfer, der Sohn eines russischen Emigranten, der in Wien reich geworden war. Jedenfalls hielt ich ihn für sehr reich, da ich ihn einmal in einem dicken Pelzmantel mit großer Pelzmütze gesehen habe. Überhaupt ist mir damals zunehmend aufgefallen, dass unter den sozialistischen Mittelschülern nur sehr wenige Arbeiterkinder waren, dafür um so mehr Kinder aus bürgerlichem Haus. Unsere Zusammenkünfte fanden meist in eleganten Bürgerwohnungen statt. Am 15. Juli 1927 kam es vor dem Justizpalast zu ersten großen und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Tags zuvor waren jene Frontkämpfer freigesprochen worden, die bei einem Zusammenstoß mit dem Republikanischen Schutzbund im burgenländischen Schattendorf für den Tod von zwei Menschen verantwortlich waren – einem Invaliden und einem Kind. Wegen dieses Freispruchs kam es zu spontanen Arbeiterdemonstrationen gegen die »Schandjustiz«. Ich war neugierig, schnappte mir meinen Cousin Artur Kreisky, der damals mit seinen Eltern bei uns zu Besuch war, und gemeinsam gingen wir zum Justizpalast, um uns anzuschauen, was wir zunächst für ein bloßes Spektakel hielten. Plötzlich peitschten Schüsse. Wir haben die Salven nicht nur gehört, wir haben auch die fallenden Menschen gesehen, das Blut. Zum ersten Mal sah ich Menschen sterben. Das Herz klopfte uns bis zum Halse.

      Als wir wieder wohlbehalten zu Hause eintrafen, hatte sich in der Stadt mit Windeseile das Gerücht verbreitet, in der Babenbergerstraße sei ein Mann namens Artur Kreisky erschossen worden. Da alle Kreiskys, die es auf der Welt gibt, vor zwei, drei und mehr Generationen miteinander verwandt waren, muss auch er weitläufig zu uns gehört haben. Nun war dies aber ein anderer Artur Kreisky, weder ein rebellierender Arbeiter noch ein Neugieriger, sondern ein angesehener Juwelier aus der Kärntner Straße, der gerade auf dem Nachhauseweg war. Er erlitt mehrere Durchschusswunden und starb drei Tage später. Die Presse hat den Fall breit ausgeschlachtet, um zu zeigen, wie sinnlos die Polizei herumgeschossen hat und dass es gar nicht darum gegangen ist, Arbeitermassen zurückzudrängen, sondern Macht zu demonstrieren. Insgesamt wurden an diesem Tag 89 Menschen getötet, darunter viele Angehörige der Sicherheitswache, und mehr als sechshundert verletzt. – Mein Cousin wurde sechzehn Jahre später, im Juni 1943, wegen Widerstandstätigkeit in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

      Betrachtet man die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik, so wird man wahrscheinlich zu dem Schluss kommen müssen, dass ihr Abstieg damals im Jahre 1927 begonnen hat. Bis zu jenem 15. Juli war die Partei von einem bis dahin unbekannten, fast rauschhaften Hochgefühl durchdrungen. Soeben erst hatte sie einen glänzenden Wahlsieg errungen, und Otto Bauer hatte die Parole ausgegeben: »Noch einmal 200.000 Stimmen, und wir haben die Mehrheit.« Einige meiner Freunde, darunter Victor Weisskopf, haben damals ein politisches Kabarett gemacht, in dem sie das Wort »Noch einmal 200.000!« selbstherrlich aufgriffen. In dem Sketch wurde der Tag geschildert, an dem wir endlich die Mehrheit hätten. Man ließ das Rathaus festlich beleuchten – an so etwas hatten die Wiener besonderen Gefallen –, und dann endete die Strophe:

       Was tamma jetzt, was tamma jetzt?

       Jetzt wird a bisserl ausgesetzt.

       Was tamma dann, was tamma dann?

       Dann fang’ ma halt wieder vom Anfang an.

      Es war ein ungeheures Kraftgefühl, das uns damals durchströmte. Schließlich hatten wir die Wahlen gegen die von Seipel konstruierte, sogenannte bürgerliche Einheitsliste gewonnen, die von dem Antisemiten Riehl, einem der Urnazis, bis hinüber zu den jüdischen Kandidaten in der Leopoldstadt reichte. Und gegenüber den Wahlen von 1923 hatten wir noch einmal drei Mandate hinzugewonnen (insgesamt 71), während die Christlichsozialen 9 Sitze verloren (insgesamt 73). Mitten in diese Hochstimmung fiel der furchtbare Schock vom 15. Juli.

      Im Nachhinein lässt sich natürlich leicht behaupten, dass es ein schwerer politischer Fehler war, in einem Moment, wo ganz Österreich im Bann der Sozialdemokratie stand, den Generalstreik auszurufen. Wer die Vorgeschichte kannte, musste wissen, dass er nicht lückenlos befolgt werden würde. Man konnte sich auf die Eisenbahner verlassen, die einen sicheren Arbeitsplatz hatten und lange die Treuesten der Treuen waren, auch auf die Postbeamten und Metallarbeiter. Aber das große Wort, das uns alle in unserer Jugend faszinierte: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«, das hat sich eben nicht als zutreffend erwiesen.

      Und wer hätte gedacht, dass die Polizei schießen würde? Das war ja die eigentliche Tragödie. Nichts hat sich das österreichische Bürgertum sehnlicher gewünscht, als dass die von Wahl zu Wahl erfolgreichere Sozialdemokratie auf die eine oder andere Weise einen schweren Rückschlag erleiden möge. Im gleichen Moment, in dem der Staat bewies, dass er sich traute, auf demonstrierende »Rote« zu schießen, war der Bann ihrer Politik gebrochen. Man kann also, dachten seither viele, mit der Sozialdemokratie fertig werden, sofern man nur den Mut hat, in die Leute hineinzuschießen. Diesen »Mut« hat der Staat am 15. Juli 1927 gezeigt, und der Held der Stunde war der Wiener Polizeipräsident Schober, ein im Grunde empfindsamer Beamter aus den Zeiten der Monarchie, der sich oft beschwerte, dass er ungerecht behandelt werde.

      Das Ärgste war, dass die Sozialdemokratie der Gegenseite einen Anlass geboten hat oder zumindest einen Vorwand. Denn ich glaube nicht, dass der Leitartikel des Chefredakteurs der Arbeiter-Zeitung, auf den sich Schober berief und den man in der Tat als sehr heftig bezeichnen kann, von den Arbeitern wirklich gelesen worden ist. Die Arbeiter-Zeitung hatte zwar eine große Auflage, aber die Masse der Leute hat nicht um fünf Uhr in der Früh den Leitartikel gelesen, um dann um sechs Uhr in die Fabriken zu gehen und zu sagen: Jetzt marschieren wir! Das war eher ein impulsiver Entschluss, und instinktiv zogen die Massen auch zum Justizpalast als dem Inbegriff der Schandjustiz. Die Eskalation, zu der es dort kam, hat sich aus der Situation ergeben. Vielleicht steckten sogar bolschewistische Agenten dahinter, denn das Wien jener Jahre war ein Tummelplatz für sie. Viele von ihnen betrieben damals sehr stark die anarchistische Propaganda der Tat.

      Die Österreicher der Ersten Republik waren leicht erregbare Menschen. Hatte man den Krieg glücklich überlebt und war nicht als Krüppel zurückgekehrt, dann wurde der Krieg im Rückblick zu dem großen Abenteuer eines sonst ereignislosen Lebens. Zwar wollte man in den ersten Jahren vom Krieg nichts hören und nichts sehen; dann aber wurde das Ereignis literarisch verarbeitet, und am Ende stand sehr oft die Apotheose des Soldatentums an sich. Der Nazismus war ja auch und ganz bewusst eine Verlängerung der Kriegserlebnisse und machte aus der Fronterfahrung den Inbegriff menschlichen Erlebens.

       Ein Sohn aus


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