Erinnerungen. Bruno Kreisky
Typ darstellte, der alles, was man sich wünschen kann, verkörpert. Er war ein Arbeiterbub im echtesten Sinn des Wortes: armer Leute Kind, die aber sehr auf sich und ihren Sohn geschaut haben. Sicher, er sprach »Erdbergerisch«, die Sprache eines besonderen Wiener Stadtteiles, aber er beherrschte auch ohne Mühe Wiener Hochdeutsch. Seine Ausdrucksfähigkeit war bemerkenswert. Er war bildungshungrig, nicht um der Karriere willen, sondern, wie man heute sagen würde, der Lebensqualität wegen. Er war mutig, opferbereit und von einer menschlichen Wärme, die mir heute noch bewusst ist; durch materielle Werte absolut unbestechlich, jahrelang arbeitslos und doch rastlos tätig. Was ich an ihm besonders geschätzt habe, war sein Humor. Noch den ernstesten Situationen haben wir eine heitere Seite abgewinnen können.
Als ich im Juni 1945 von seinem Tod im Konzentrationslager erfuhr, habe ich in tiefer Erschütterung einen Nachruf verfasst, aus dem ich zitieren möchte: » … Roman Felleis war ein ungewöhnlicher Mensch, und trotzdem waren sein Leben und sein Tod ähnlich dem Leben und dem Tod vieler Tausender Unbeugsamer aus unseren Reihen. Wie sie, kam er aus den Reihen der jungen Arbeiterschaft, weihte seine Dienste der Arbeiterbewegung, hielt ihr die Treue in den Zeiten der Niederlage, blieb ungebrochen auch in den düstersten Tagen der Hoffnungslosigkeit und musste sein Leben lassen in den furchtbaren Mordfabriken der Nazisten.
Roman Felleis war ein leuchtendes Beispiel für den Aufstiegswillen des jungen Arbeiters. Seine Schulbildung würde gemeiniglich als ›mangelhaft‹ bezeichnet werden. Das war nicht sein Fehler, sondern der der Gesellschaftsordnung, in der er aufwuchs …
Trotz der ›mangelhaften‹ Schulbildung wusste Roman Felleis mehr von den Zusammenhängen des gesellschaftlichen Lebens, waren sie ihm klarer als den meisten akademisch Gebildeten. Ausgerüstet mit einem scharf denkenden und rasch arbeitenden Gehirn, konnte er sich die kompliziertesten Erkenntnisse rascher als die meisten aneignen. Roman Felleis war nicht nur ungewöhnlich begabt, er hatte eine Eigenschaft, die nicht immer mit Begabung zusammenfällt, er war auch fleißig. Alle Erkenntnisse, erworben durch das Studium wissenschaftlicher Werke, gingen bei ihm durch den Filter einer bei einem so jungen Menschen nicht alltäglichen Lebenserfahrung.«
Natürlich wäre es falsch zu glauben, die Jugendbewegung sei ein einziger Rausch der Kameradschaft gewesen. Es gab Menschen, die dem anderen den Aufstieg nicht gönnen wollten, und es war auch nicht jeder jedem gleich sympathisch. Aber alles das, was die menschliche Gemeinschaft im Negativen kennzeichnet, Intrigensucht, Feindschaft, Antipathie, war unter den Jungen damals sehr viel weniger entwickelt. Fast wäre ich geneigt zu sagen, dass es sich bei den Jungen um bessere Menschentypen handelte. Vielleicht ist das auch eine nostalgische Verklärung.
Ich weiß nicht, ob ich mit Gleichgesinnten gegen andere intrigiert habe, jedenfalls vorgeworfen wurde es mir eigentlich nie. Ich hatte auch wenig Gelegenheit dazu. Und dennoch waren einige meiner Genossen in Wien darauf aus, mir ein Bein zu stellen. Es gab in Niederösterreich ein paar ländliche Bezirke, die ohne Leitung waren, obwohl sie von Wien aus hätten betreut werden sollen, weil das aufgrund der damaligen Verkehrssituation am einfachsten gewesen wäre. Da haben einige hinterlistig gemeint: »No, des soll der Kreisky machen!« Insgeheim hofften sie natürlich, dass ich mich dabei »derstess’n« werde, wie man auf wienerisch sagt, weil sich dort noch jeder »derstess’n« hat.
Aber das, was mir das Genick hätte brechen sollen, ist ein großer Erfolg für mich geworden. Die drei Bezirke Purkersdorf, Klosterneuburg und Tulln waren der steinigste Boden, auf dem ich bis dahin gearbeitet hatte. Das Tullnerfeld war ein extrem agrarisches Gebiet und eine der schwärzesten Bastionen, die es in Österreich gab. Klosterneuburg war eine reine Bürgerstadt, mit hoher Arbeitslosigkeit, und Purkersdorf war von alters her eine Art Sommerfrischengebiet. Noch heute zeugen viele der Häuser dort von der Pracht des Fin de Siècle. Nicht zu Unrecht werden Stücke von Schnitzler, Hofmannsthal und anderen Wiener Autoren dieser Zeit mit Bühnenbildern inszeniert, die diese Sommervillen des Bürgertums nachahmen. Immer im Mai ist man hinausgezogen in seine Villa, oder man hat eine gemietet, und dort verlebte man dann den Sommer. Während die Eltern einige Wochen nach Abbazia in Istrien oder in einen anderen Kurort der Monarchie fuhren, verbrachten die Kinder die Sommerfrische in der zauberhaften Umgebung Wiens.
Diese drei Bezirke also waren mir zugeteilt worden, und im Tullnerfeld musste man sich schon etwas einfallen lassen, um die Bauern zu unseren Veranstaltungen zu locken. In einem besonders ungastlichen Ort wollte man uns nicht einmal ein Lokal zur Verfügung stellen. So kamen wir auf die Idee, den sehr populären Generalstabschef der Isonzoarmee zu gewinnen, den unter dem Eindruck des Krieges zur Sozialdemokratie übergetretenen späteren Bundespräsidenten Theodor Körner. Ich habe Körner gebeten, über die Isonzoschlachten zu reden, weil die meisten Bauern im Tullnerfeld am Isonzo dabeigewesen waren und ihn deshalb kannten. Er wisse ja, sagte ich ihm, dass wir eine politische Rede erwarteten, aber in Sieghartskirchen könnten wir so etwas nicht ankündigen. Nach ein paar einleitenden Sätzen über die Isonzoschlachten solle er dann das Thema wechseln.
So geschah es. General Körner hatte eine für damalige Verhältnisse große Zuhörerschaft, und es brauchte lange Zeit, bis die Bauern dahinterkamen, um was es sich wirklich handelte. Eine deutlich spürbare Wut begann sich aufzuspeichern, und kaum hatte Körner zu Ende gesprochen, schwang ich mich auf mein Fahrrad und machte mich aus dem Staub. Obwohl sie mich überall abgepasst haben, erreichte ich glücklich die nächste Bahnstation. Ein Bauer aus Sieghartskirchen, der später im Aufsichtsrat der Länderbank saß, hat viele Jahre später zum Generaldirektor der Länderbank, der ebenfalls aus Sieghartskirchen stammte, gesagt: »Weißt, was mich heut’ noch gift? Dass mir den Kreisky damals nicht derwischt haben.«
Im Laufe der Zeit kümmerte ich mich immer stärker um diese niederösterreichischen Bezirke. Ich habe die mühevolle und bisweilen hoffnungslos scheinende Arbeit in der Provinz sehr gern gehabt, und ich habe dort viele Freunde gefunden. Nach dem Krieg bin ich nach Niederösterreich zurückgekehrt, habe dort 1956 mein erstes Parlamentsmandat bekommen und wurde 1966, acht Monate vor meiner Wahl zum Parteivorsitzenden, Obmann dieses zweitgrößten Bundeslandes. Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass ich in Niederösterreich meine politische Heimat gefunden habe, und noch immer interessiert mich sehr, was in diesen Orten los ist. Es gibt wohl kaum ein Dorf in Niederösterreich, in dem ich nicht mindestens ein- oder zweimal gewesen bin.
Auch als Parteivorsitzender habe ich den 1. Mai immer in Niederösterreich wahrgenommen. Am Vormittag nahm ich an der Wiener Großkundgebung teil, am Nachmittag sprach ich in irgendeiner kleinen Gemeinde meines politischen Heimatbezirkes, und immer freute ich mich aufs Neue, wenn ich unter den Zuschauern Frauen und Männer aus meiner Jugendzeit traf: Man hat oft eingewendet, dass ich kein Niederösterreicher, sondern eine Art Leihgabe aus Wien gewesen sei. Aber wenn ich meine Schulzeugnisse aus der Monarchie zur Hand nehme, dann lese ich dort: Wien in Niederösterreich. Und so war es auch. Es war selbstverständlich, dass Wien die Hauptstadt Niederösterreichs war. Erst neuerdings ist man auf die skurrile Idee gekommen, eine künstliche Hauptstadt zu schaffen. Es ist mir unbegreiflich, wie man auf ein so gewaltiges kulturelles und gesellschaftliches Zentrum wie Wien verzichten kann. Wie hat doch Herzmanovsky-Orlando gesagt: »Auf was die Fachleut’ alles draufkommen, wenn man sie lasst«– auch Quasi-Politiker.
Denke ich zurück an meine Jahre in der sozialistischen Jugendbewegung, muss ich mir selber immer wieder Grenzen setzen. Ich empfinde diese Jahre noch heute als so erlebnisreich, dass ich fast geneigt wäre, sie zu den schönsten meines Lebens zu rechnen. Man muss die Leute gern haben – dieses Wort Victor Adlers war von früh auf mein ethischer Grundsatz in der Politik. Ich habe mich in der Jugendbewegung unendlich wohl gefühlt, und das Zusammensein mit Menschen, die über den Tag hinaus lebten, große Ziele verfolgten und doch zugleich mit beiden Beinen fest auf der Erde standen, sehr genossen. Auch habe ich dort Freunde gefunden, mit denen ich den größten Teil meiner freien Zeit verbrachte.
Meinem Äußeren nach und meinem Auftreten nach war ich, was man unter einem jungen Mann aus gutem Hause verstand. So habe ich gar nicht erst versucht, mich in meiner Kleidung, in meinem Gehaben oder in meiner Sprache anzubiedern, bin also nicht, wie das damals und auch heute allerorten üblich ist, in irgendeiner Einheitskleidung herumgegangen. Vielmehr galt ich immer als sehr gut gekleidet.
Nun hatte es damit allerdings etwas Besonderes auf sich.
Ich hatte