Erinnerungen. Bruno Kreisky
als große Begabung; schon in jungen Jahren war er einer der Direktoren einer Wiener Automobilfabrik geworden und war mithin das, was man in Wien leichtfertig ein Genie nennt.
Es gab damals in Österreich eine ganze Reihe von Automobilfabriken. Steyr, eine über die Grenzen hinaus bekannte Automarke, hatte einige sehr geglückte Modelle auf den Markt gebracht, unter anderem ein Auto für den Taxiverkehr, das noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg gefahren wurde und immer wieder repariert werden konnte, weil es eine ausgezeichnete Werkmannsarbeit war. Zu den schönsten Automobilen der Zeit gehörte der Austro-Daimler. Dann gab es noch den österreichischen Rolls-Royce, er hieß Gräf & Stift.
Ich halte es für einen folgenschweren Fehler, dass wir uns 1955 nicht entschließen konnten, die Automobilproduktion in Steyr wieder aufzunehmen. Steyr war ein Markenname, und wir hatten hervorragendes Personal. Wir hätten leicht einen Mittelklassewagen produzieren können und eines Tages vielleicht einen ähnlichen Erfolg am Weltmarkt erzielt wie Volvo. Als Außenminister habe ich oft und oft mit dem damaligen Generaldirektor der Steyr-Werke gesprochen und ihn aufgefordert, sich doch nicht so stark auf eine Branche einzulassen, in der man mit gewaltigen Weltfirmen nicht konkurrieren könne – ich meine die Landmaschinenerzeugung. Man solle sich auch nicht mit dem Finishing des italienischen Fiats begnügen, wo bestenfalls einige wenige Stunden österreichischer Arbeit drinsteckten. Der Generaldirektor aber hielt die Krisenanfälligkeit der Automobilindustrie für sehr groß. Die Steyr-Werke waren in den dreißiger Jahren tatsächlich in besonderem Maße von der Krise erfasst worden; die Stadt Steyr hatte die meisten Arbeitslosen in Österreich gehabt und war eine Stadt des Jammers und des Elends geworden. Die Erinnerung an diese Zeit veranlasste ihn, lieber Geld zu horten, als eine neue Automobilproduktion in Angriff zu nehmen.
Mein Cousin war früh zuckerkrank geworden und starb. Für meine Tante war dies ein unfassbarer Verlust; dass sie überlebte, grenzte an ein Wunder. Nach dem Tod ihres einzigen Sohnes wendete sie ihre ganze Zuneigung mir zu, und bald nahm ich die Stelle eines Wahlsohnes bei ihr ein. Sie bat mich sogar darum, ihr die Freude zu machen, seine Kleidungsstücke zu tragen. Da mein Cousin ein eleganter Herr war und bei den besten Schneidern, Hemdenmachern und Schustern arbeiten ließ, bin ich in diese Art der Equipierung gewissermaßen hineingewachsen. Ich muss gestehen, dass ich nichts dagegen hatte. Noch heute trage ich – ohne Rücksicht auf das, was gerade modern ist – im Wesentlichen die gleichen Anzüge, die gleichen Schuhe, die gleichen Hemden und die gleichen Krawatten.
Das war aber auch alles, was ich mit meinem Cousin gemeinsam hatte, denn er war ein geschworener Feind der Sozialdemokraten. Ich erinnere mich noch, wie er anlässlich eines großen Automobilarbeiterstreiks im Familienkreis hasserfüllt von den »Roten« sprach, und wie gern ich ihm widersprochen hätte, nur fehlte mir damals noch die nötige Sachkenntnis. Meine Unfähigkeit, das Gewusste auch zu formulieren und mit Argumenten aufzuwarten, hat mich zum ersten Mal gelehrt, wie wichtig für eine Diskussion die gründliche Vorbereitung ist. Gefühl und Instinkt reichen nicht aus. Ein Sozialdemokrat, hat Willy Brandt einmal gesagt, muss bereit sein, täglich aufs neue zu überzeugen. So habe ich es immer gehalten. Ich habe mich nie wissentlich in eine Diskussion eingelassen, wenn ich das Gefühl hatte, ich wüsste über die Zusammenhänge zu wenig Bescheid.
Auf der anderen Seite war ich sehr streng mit mir selbst. Ich bin während meines ganzen Lebens kaum je in einem Nachtlokal gewesen. Nicht, dass ich Nachtlokale und Leute, die dort verkehren, verachtete, aber es hat nicht zu meinem Lebensstil gepasst. An ein einziges Mal erinnere ich mich: Mein erster Jugendobmann, Ferdinand Nothelfer, wollte, dass ich am Abend mit ihm agitieren gehe. »Wo gehst denn hin?« hab’ ich ihn gefragt. »Ins ›Moulin Rouge‹.« Wir haben uns fein herausgeputzt – für ihn war der Smoking die Berufskleidung – und sind ins »Moulin Rouge« gezogen. Als gleich ein Kübel mit einer riesigen Champagnerflasche an den Tisch gebracht wurde, ist mir ganz schwindlig geworden. Ich habe mich über den Tisch gebeugt und leise gefragt: »Ja, sag amal, wer zahlt denn das?« Er hat auf mich geschaut mit einem müden Lächeln, wie es Kellner manchmal an sich haben, und geantwortet: »Der b’soffene ungarische Graf da drüben.« Nobel wie er war, hat er wohl darauf verzichtet, die Rechnung zu prüfen.
Die sozialdemokratische oder sozialistische Arbeiterbewegung hat seit Anfang dieses Jahrhunderts in den demokratischen Staaten Europas gewaltige gesellschaftliche Veränderungen bewirkt. Die sozialistischen Parteien sind somit Parteien im historischen Sinne geworden. Zwar haben sie die Grundprinzipien der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht verändert, aber durch ihre gesellschaftspolitischen Ideen haben sie ihr ein etwas menschlicheres Gepräge verliehen. In einigen Ländern droht durch den sogenannten »Neokonservativismus« allerdings eine Rückkehr zu den alten Zuständen. Die Sozialdemokratie müßte, um dem zu begegnen, wieder eine große Aufklärungs- und Kulturbewegung werden, freilich in einem ganz neuen Sinne. Früher hat sie neue Institutionen geschaffen oder vorhandene in einer Weise verändert, dass sie der nach Kultur hungernden Elite der Arbeiterbewegung entsprachen. Dazu gehören die Volkshochschulen in Skandinavien, die der Arbeiterbewegung trotz ihrer Unparteilichkeit gewaltige Dienste erwiesen haben, und alle Arten von Volksbildungseinrichtungen. In Österreich war eine davon die sogenannte Arbeitermittelschule, wo Arbeiter und Angestellte am Abend Unterricht von Mittelschullehrern erhielten; auf diese Weise wollte man ihr intellektuelles Bewusstsein stärken und sie auf die Matura vorbereiten.
An der Wiener Arbeitermittelschule unterrichtete unter anderen Otto Koenig, ein witziger und wortstarker Theaterrezensent. Das Theater war seine Leidenschaft, und als alter Sozialdemokrat wollte er auch gerne junge Arbeiter und Angestellte in diese Welt einführen. Das Fach nannte er »Dramaturgie«. Wegen dieser Dramaturgiestunden gab es bei den für die Arbeiterjugendbildung Verantwortlichen regelmäßig Verdruss. Der Arbeitermittelschule insgesamt stand man sehr positiv gegenüber, aber Robert Danneberg, eine der großen Persönlichkeiten der Partei, hat immer wieder gefragt: »Wozu braucht ein Arbeiterbub Dramaturgie?« Ich antwortete dann, dass das in Wirklichkeit qualifizierte Literaturgeschichte sei, die da auf besondere Weise vorgetragen werde. Ganz überzeugen konnten wir Danneberg wohl nicht.
Warum ich diese Episode erzähle? Weil aus dieser Arbeitermittelschule einer der bedeutendsten Dramatiker des modernen Österreich hervorgegangen ist: Fritz Hochwälder. Ich lernte ihn in den Dreißigerjahren kennen. Er war damals arbeitsloser Tapezierer – man soll über Tapezierer keine voreilige Meinung haben - und trug in den Jugendgruppen unter dem Titel Ernstes und Heiteres Stücke vor. Die Arbeiterbildungsbewegung zahlte für solch einen Abend fünf, manchmal sogar zehn Schilling. Das Niveau war sehr unterschiedlich. Viel Erfolg hatten diejenigen, die alte Kalauer vortrugen und damit besonders bei den älteren Leuten Anklang fanden, während die Jungen kritischer waren. Hochwälder war sehr geschätzt. Er trug Brecht, Tucholsky, Becher, Mehring, Kästner und andere vor. Eines der schönsten Gedichte, das ich bei einer solchen Gelegenheit zum ersten Mal hörte, war die Ballade von den Augen des Heizers von Jiří Wolker. Sie schildert die Tragik eines Mannes, der eine Dampfmaschine bedient, damals die übliche Energiequelle der Industrie. Mit jeder Schaufel Kohle warf er ein Stück seiner Augen in die Glut.
Wenn aus der Arbeitermittelschule mit ihrem Fach »Dramaturgie« auch nur ein Dichter oder Gelehrter vom Format Fritz Hochwälders hervorgegangen ist, dann hat sie sich gelohnt. Darüber hinaus aber gab die Arbeiterkulturbewegung den Menschen ein Gefühl für das, was man heute als »Lebensqualität« bezeichnen würde. Die Institutionen dieser Bewegung haben das Leben für sie erst lebenswert gemacht; Lebensqualität war also kein Luxus, sondern eine existentielle Frage. Die meisten waren arbeitslos, und wenn sie nur ein Stück Brot und eine Erbsensuppe hatten, waren sie zufrieden.
Glücklich waren sie, wenn wir ihnen am Sonntagvormittag in einem gemieteten Kino die Dreigroschenoper oder einen der großen Filme von G. W. Pabst vorführten; als Arbeitslose konnten sie sich eine Kinovorstellung nicht leisten. Wir haben große und kleine Arbeiterbüchereien aufgebaut, in denen Werke zur Verfügung standen, die die öffentlichen Bibliotheken gar nicht erst anschafften, und wir haben den Menschen die Möglichkeit geboten, mit den »Naturfreunden« hinaus in die Natur zu kommen. Dieser Verein – die Grünen von damals – wurde zum Kern einer gewaltigen Massenbewegung; »weg von den Wirtshäusern« lautete die Parole. Auch gesundheitspolitisch war diese Bewegung bedeutsam; Wien galt als die Stadt der Tuberkulose, die auch »Morbus Viennensis« genannt wurde.
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