Erinnerungen. Bruno Kreisky
aller Länder zum Kampf auf, sondern die Kapitalisten aller Länder, nach Russland zu kommen, um sich dort zu bereichern. Und sie kamen aus allen Ländern: die Automobilfabrikanten aus Amerika, die Textilfabrikanten aus Europa, und auch die deutsche Wirtschaft, die sich vom Krieg noch kaum erholt hatte, war zur Stelle. Aber nicht nur die Konsumgüterindustrie kam in Schwung, auch zu essen gab es in Hülle und Fülle, und die sogenannten Kulaken – Bauern mit familienfremden Arbeitskräften – sorgten für ausreichende Ernährung.
Nach dem Tode Lenins wagte Stalin diese Politik nicht gleich zu verändern. 1928 war jedoch endgültig Schluss mit der NEP; der Machtkampf war zu Stalins Gunsten entschieden. Trotzki wurde ausgewiesen, auf die türkische Insel Büyük Ada (Prinkipo); von dort ging er nach Oslo und übersiedelte dann, offenbar aus klimatischen Gründen, nach Mexiko. Es dürfte allerdings nicht nur das Klima gewesen sein, das ihn dazu veranlasste, denn der Arm Stalins reichte weit, und Norwegen war ein offenes Land. Ich will die ideologischen Gegensätze zwischen Stalin und Trotzki nicht unterschätzen, aber sie scheinen mir nur der sichtbare Ausdruck dafür zu sein, dass, wie so oft in der Geschichte, derjenige den Kampf für sich entschied, der den Apparat beherrschte. Das war eindeutig Stalin, auch wenn er der weniger begabte Führer gewesen sein mag. Ich konnte mich nie zu dem Gedanken durchringen, dass es sich bei Trotzki um eine andere Art von Kommunismus, um einen »Kommunismus mit menschlichem Antlitz« gehandelt haben soll. Ich bin davon überzeugt, dass Trotzki als Sieger seine Gegner ähnlich brutal behandelt hätte wie Stalin.
Natürlich war auch die bolschewistische Führung nicht frei von Gegensätzen. Es erfordert ja eine ganz besondere psychologische Struktur, für ein politisches Ziel zu kämpfen, das weit in der Zukunft liegt. Deshalb entzündet sich in der Anfangsphase interner Diskussionen oft der Streit um die Frage »Weg und Ziel« beziehungsweise »Ziel und Weg«. Viele Kommunisten sind mir deshalb oft politisch schizophren vorgekommen: Einerseits erklärten sie, dass das Endziel ihrer politischen Bestrebungen, die Verwirklichung des Kommunismus, in weiter Ferne liege, andererseits taten sie so, als ob es unmittelbar vor der Verwirklichung stehe. Das ist einer der Gründe, warum das Wort Sozialismus in der stalinistischen Ara »annektiert« wurde: nicht nur, um Verwirrung zu stiften, sondern vor allem, um den Sozialismus als den Weg und den Kommunismus als das Ziel zu postulieren. Aus dieser Schizophrenie heraus ist auch die politische Wanderung vieler Kommunisten zu verstehen. Wie viele haben nicht die kommunistische Bewegung verlassen – dort jedenfalls, wo sie sich das leisten konnten, ohne in ihrer physischen Existenz bedroht zu sein –, von Arthur Koestler bis Herbert Wehner, von Henri Barbusse bis Ernst Bloch. Sie mögen mancherlei Gründe angegeben haben, aber irgendwie sind sie sich doch ihrer schizophrenen Situation bewusst geworden, und einige haben sich denn auch in ein ganz unpolitisches Dasein zurückgezogen. So manche, die zu den Sozialdemokraten gegangen sind, haben bis zuletzt – jedenfalls in ihrer Agitation – nicht ganz verschleiern können, dass sie aus einem Lager kamen, in dem ein gewisses Maß an Intoleranz zur Grundausrüstung gehört.
Aus der Diskussion innerhalb der deutschen Sozialdemokratie am Ende des Ersten Weltkriegs geht eines klar hervor: Der eigentliche Grund für die Spaltung der Arbeiterbewegung war nicht die Russische Revolution, sondern der Krieg. So war es auch in Österreich; die Geister schieden sich nicht an der Frage, wie man die Ereignisse in Russland zu bewerten habe, sondern daran, dass 1914 eine der Grundpositionen der Internationale aufgegeben worden war.
Die Sozialdemokratie war die bis dahin größte und bedeutendste pazifistische Bewegung, die es in der modernen Geschichte gegeben hat, allein schon aufgrund ihres weithin hörbaren Internationalismus. Dieser Internationalismus hatte sich als erstes Ziel die Verhinderung eines Krieges vorgenommen. Vielleicht hatte man sich in dieser Frage allzu großen Illusionen hingegeben, denn am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist der Pazifismus der Arbeiterklasse wie ein Fluss im Karst verschwunden. Der Pragmatismus forderte aufgrund einer allgemeinen, unverständlichen Hochstimmung ein Bekenntnis zur Nation. Den katastrophalsten Beleg hat das in Deutschland an jenem 4. August 1914 gefunden, an dem die deutsche Sozialdemokratie geschlossen für die Kriegskredite stimmte, was Wilhelm II. zu der Feststellung veranlasste: »Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur noch Deutsche.« Und der energische August Bebel hatte schon 1904 gesagt, dass in einem Krieg, »in dem es sich um die Existenz Deutschlands handelt«, die Sozialdemokraten »bis zum letzten Mann bereit seien, die Flinte auf die Schulter zu nehmen«.
Und wie sah es in Österreich aus? Am 5. August 1914 erschien in der Arbeiter-Zeitung ein Leitartikel des Chefredakteurs Friedrich Austerlitz mit der Überschrift: Der Tag der deutschen Nation. Ein Beweis dafür, dass die österreichische Sozialdemokratie, soweit sie deutschsprachig war, von einer großdeutschen Grundgesinnung getragen war. In Deutschland haben sich die Gegensätze, wie gesagt, bald sehr nachdrücklich manifestiert, und am Ende des Krieges gab es zwei Parteien, die Mehrheitssozialisten und die USPD. Die Haltung zum Krieg ist also die wirkliche Ursache der Spaltung gewesen. Das hat nichts mit dem allgemeinen Gegensatz zwischen Radikalen und Gemäßigten zu tun. Es ist im Gegenteil eine Lebensvoraussetzung der europäischen Sozialdemokratie, dass sich in einer so mächtigen Bewegung sehr verschiedenartige Gesinnungen beheimatet fühlen müssen. Eine Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken hätte kaum zur Spaltung geführt, denn ein solcher Zwist kann immer wieder überbrückt werden. In der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie gibt es hierfür ein beredtes Beispiel.
Auf dem Parteitag im Oktober 1917 prallten die Gegensätze besonders hart aufeinander. Victor Adler mit Karl Renner in seinem Gefolge stand auf der Rechten, auf der Linken führten vor allem Otto Bauer und Robert Danneberg das Wort. Die Auseinandersetzung verlief durchwegs kultiviert, ohne jeden persönlichen Hass. Victor Adler, schon vom Tode gezeichnet, hat sich furchtbar müde und elend gefühlt. Als man für den letzten Tag verabredete, die gegensätzlichen Standpunkte in Resolutionsvorschlägen dem Parteitag vorzulegen, ging Adler zum Wortführer der Linken, zu Otto Bauer, dem er menschlich eng verbunden war, und forderte ihn auf, auch den Text der Resolution der Rechten zu schreiben. Und Otto Bauer hat in vollster Übereinstimmung mit den Forderungen der Rechten auch deren Resolutionsentwurf verfasst, so wie er den der Linken geschrieben hat. Das war keineswegs so, wie es seinerzeit nach Gustav Freytags Journalisten über den Schmock hieß: »Er kann schreiben rechts, er kann schreiben links.« Nein, es war Bauers Genialität, Gedankengänge anderer nachzuempfinden, zu verstehen und zudem auch überzeugend zu formulieren – besser vielleicht, als einer der ihren es hätte können.
Als der Krieg zu Ende war, hatten sich innerhalb der sozialistischen Bewegung sehr viele Richtungen herausgebildet. Die einen wollten die alte Internationale wieder errichten; diejenigen, die von Anfang an gegen den Krieg gewesen waren, bildeten die »Zweieinhalbte« Internationale; und dann gab es noch die Dritte, die Kommunistische Internationale. Die Diskussionen wurden von den besten Köpfen geführt, und sie waren von großem Gehalt. Dennoch sind die Ideen von damals irgendwo im ideologischen Weltall verflogen und spielen in der aktuellen theoretischen Debatte kaum mehr eine Rolle. Wer die Protokolle heute nachliest, hat das Gefühl, als ob uns Lichtjahre von damals trennten. Es war die große Zeit der eloquenten Intellektuellen. Ihre gewaltigen Rededuelle uferten immer mehr aus, bis man sich entschloss, die Zeit fur die einzelnen Redner zu beschränken. Und wieder möchte ich eine Anekdote aus dieser Zeit beisteuern, die mir der französische Sozialist Salomon Grumbach, ein Vertreter der Zweiten Internationale, erzählte. 1922, beim Berliner Kongress der drei Internationalen, nachdem fast alle Delegierten schon stundenlang geredet hatten, bekam Grumbach das Wort. Er war Elsässer und sprach in französischer Sprache, aber als er kaum bei der Hälfte angelangt war, bedeutete ihm der Vorsitzende, dass seine Redezeit abgelaufen sei. Grumbach wandte sich an den Vorsitzenden mit der Bitte, seine Rede ins Deutsche übersetzen zu dürfen. Das konnte ihm nicht verwehrt werden; aber statt zu übersetzen, hat Grumbach seine Rede auf deutsch einfach fortgesetzt. So hatte er als einziger die doppelte Redezeit.
Zu den ideologischen Grundsätzen in meiner Jugendzeit gehörte die These der Einheit von Theorie und Praxis. Heute würde ich sagen, dass die sozialdemokratische Praxis von allem Anfang an der Theorie davongelaufen ist, und zwar in dem Maße, wie die Sozialdemokratie groß geworden ist und eine gewisse Mitverantwortung, wenn auch in der Opposition, übernommen hat. Seitdem sie in Parlamenten vertreten war, gab es verschiedene Formen der Bereitschaft zur Mitverantwortung.
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