Erinnerungen. Bruno Kreisky
trotz allen Elends menschenwürdig sei, und der alte Heimatbegriff verblasste immer mehr. Er hatte seine materielle Berechtigung verloren; das Leben in der »Heimat« wurde für Hunderttausende Arbeitslose immer schwieriger. Aus der Erinnerung an diese Jahre und aufgrund meiner Erfahrungen in Skandinavien war es eine zentrale Idee meiner Politik nach dem Krieg, den Begriff eines neuen österreichischen Patriotismus zu verwirklichen. Ich habe immer wieder gesagt: Was wir Sozialdemokraten wollen, ist, Österreich zu einer guten Heimat des Volkes zu machen. Mit diesem »Österreichischen Weg«– das war die Parole – haben wir immer wieder die Mehrheit gewonnen, und wenn ich vor älteren Leuten, die wussten, wovon ich redete, sagte: »Niemals ist es so vielen Menschen so gut gegangen wie jetzt in Österreich«, erntete ich immer stürmischen Beifall.
Verglichen mit heute war die Jugendbewegung meiner Zeit nicht nur zahlenmäßig stark, sondern genoss auch innerhalb der Partei eine sehr viel größere Wertschätzung. Da die Partei sich in Opposition befand und im Kampf gegen eine politische Übermacht stand, bedurfte sie zur Durchführung ihrer politischen Arbeit dringend der jungen Menschen. Heute vermissen viele in der Bewegung das Kämpferische. Es ist sehr schwer für junge, aktive Kräfte, in einer Partei zu wirken, die als Koalitionspartner Regierungsverantwortung mitzutragen hat. Regiert die Partei allein, wird sie immer unter dem Zwang stehen, ihre politischen Entscheidungen den kritischen jungen Leuten aus den eigenen Reihen zu erklären. In einer Koalition mit sogenannten bürgerlichen Parteien aber muss sie nicht nur ihre eigene Politik rechtfertigen, sondern auch die Politik des Koalitionspartners, und es ist schwer, jungen, politisch kämpferischen Menschen die diffizilen Manöver in einer Koalitionsregierung plausibel zu machen. Die Jungen legen dies schnell als politische Schwäche aus, berufen sich auf den einstigen Kampfgeist der Bewegung und üben härteste Kritik an der Partei, was aber nur dazu führt, dass diejenigen vertrieben werden, die sie durch diese Kritik zu gewinnen vorgeben. Die These, dass man junge Leute leichter gewinnt, wenn man sich kämpferisch zeigt, ist falsch; was soll einen jungen Menschen veranlassen, sich einer Partei anzunähern, von der er bestenfalls sagen kann, dass sie die Tätigkeit der Jungen toleriert.
Heute gibt es allerdings eine neue politische Situation, die es der sozialistischen Jugendbewegung leichter macht, den kämpferischen Geist der Jungen voll zum Einsatz zu bringen, ohne dabei den Zusammenhalt mit der Partei aufs Spiel zu setzen. Im Vordergrund steht das sehr berechtigte Interesse an der Erhaltung des Friedens. Ohne mich an dieser Stelle lange mit einer sehr komplizierten Materie auseinanderzusetzen: Es geht ganz einfach um das Leben auf diesem rollenden Planeten. Den tiefen Zukunftspessimismus der Jungen verstehe ich gut. Da ich in meinem Leben Zeuge furchtbarer Ereignisse war, sage ich mir, wenn nur ein Bruchteil dessen, was an sträflichem Leichtsinn, an grenzenloser Dummheit und an politischen Verbrechen zwischen den beiden Weltkriegen geschehen ist, wieder geschieht, dann ist das Unglück tatsächlich unaufhaltsam. Hier sehe ich die große Aufgabe der jungen Generation: Sie darf sich nicht irre machen lassen, auch nicht von Politikern, die sich aus sogenannten realpolitischen Erwägungen möglichst wenig Opposition wünschen. Das ewige Beschwichtigen und Beschwören, man möge doch die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nicht stören, darf uns nicht davon abhalten – als echte Freunde Amerikas –, wo es notwendig ist, unsere Meinung zu sagen. Es handelt sich ja in Wirklichkeit nicht um das Wohl Amerikas, sondern um die politischen Ansichten seiner herrschenden Administration. Die Einstellung, dass man um keinen Preis Kritik an dieser Administration üben dürfe, entspringt demselben Geist, mit dem man 1914 und 1938 in das Unglück rannte – nur mit dem Unterschied, dass dieser Geist damals als offizielle Politik Österreichs und Deutschlands galt. Gerade weil wir wissen, wie wenige es damals waren, die die Schuld an dem Unglück trugen, und dass es heute vieler Millionen bedarf; um eine ähnliche Entwicklung zu verhindern, dürfen wir die Auseinandersetzung nicht scheuen. In solchem Engagement sehe ich die Aufgabe der Jungen. Das Maß, in dem sich die Sozialdemokratie hier einsetzt, wird über ihre Zukunft entscheiden. Sie muss klare Fronten beziehen und darf keinen Zweifel aufkommen lassen, ganz gleich, ob sie in der Regierung oder in der Opposition ist. Es hat geradezu die Bedeutung einer Vision, sich vorzustellen, dass die Sozialdemokratie ein echter Faktor einer permanenten Friedensbewegung wird. Trotzki sprach einmal von der Notwendigkeit der »permanenten Revolution«. Wir müssen überzeugend dartun, dass wir für den permanenten Friedenskampf sind, dass wir durch unsere Politik das Leben in Frieden gewährleisten.
Ein anderes großes Gebiet, auf dem die Jungen sich engagieren können, ohne dabei mit der Sozialdemokratie in Konflikt zu geraten, ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Der Anteil der Jugendlichen unter den Arbeitslosen ist überdurchschnittlich hoch. Es muss von Sozialdemokraten und demokratischen Sozialisten ein sehr viel gründlicheres und sehr viel wirksameres Eingreifen verlangt werden. Auch sollte man weniger beckmesserisch an die Probleme herangehen. Über John Maynard Keynes schrieb der berühmte österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter 1946, dass er am Anfang immer eine Vision gehabt habe. Selbst die Ökonomen kommen ohne Visionen nicht aus, nicht einmal die konservativsten; sie sprechen sogar von »monetaristischer Revolution«. Es ist schon bemerkenswert, dass, während man sich in Europa hütet, das Wort Revolution zu verwenden, es in den Vereinigten Staaten bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit gebraucht wird. Es scheint ähnlich einem Muttermal zu sein: Man wird es nicht los.
Wenn also selbst die Ökonomie ohne Visionen nicht auskommt, so müssen erst recht wir demokratischen Sozialisten im Hinblick auf die ökonomische Entwicklung den Mut zu Visionen haben. Wie anders sollten wir der Situation in unseren modernen Industriestaaten mit Mitte der 1980er Jahre über dreißig Millionen Arbeitslosen – in den OECD-Staaten – Herr werden? Wir müssen uns um die dauernde Aktualisierung des Problems bemühen und konkrete Vorschläge zu seiner Überwindung machen. Dabei dürfen wir uns vor einer phantasievollen Politik nicht scheuen. Für konservative Ökonomen ist die Arbeitslosigkeit ja nur mehr ein als Dauererscheinung akzeptiertes Phänomen, geradezu eine innere Notwendigkeit unseres Wirtschaftslebens.
Ein drittes Feld, auf dem es der politischen Vitalität der Jungen bedarf, betrifft die Umweltpolitik. Die Problematik ist durchaus neu: Man hat die Umweltpolitik bisher meist als kommunalpolitische Angelegenheit betrachtet, als Aufgabe von Naturschutzvereinen. Doch auch diese Frage ist für die Zukunft unserer Welt von entscheidender Bedeutung: Sind wir in der Lage, die Produktionsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, vom reinen Profitdenken wegzubringen, ein neues Verhältnis von Ökonomie und Ökologie zu entwickeln und dadurch Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, wie es sie bisher nicht gab? Gelingt dies, dann wird man auch von dieser Seite der Arbeitslosigkeit zu Leibe rücken können.
Eine letzte Frage von entscheidender Bedeutung, die ich hier anschneiden möchte, ist die Frage nach neuen Beziehungen zwischen den Industriestaaten und den Ländern der Dritten Welt. Wir haben auf diesem Gebiet einen totalen wirtschaftlichen und politischen Bankrott erlebt. Alles, was sich als unwirksam erwiesen hat, muss über Bord geworfen werden, vor allem auch die These, dass Entwicklungshilfe nichts mit der eigenen Wirtschaft zu tun habe. Entwicklungshilfe kann nur wirksam sein, wenn ihre Bedeutung für die eigene Wirtschaft erkannt wird. So wie wir heute bereits die Möglichkeiten unseres Produktionsüberschusses im Hinblick auf die Staaten der Dritten Welt überlegen, so müssen wir uns auch daran gewöhnen, den großen Überschuss an Intellektuellen, den uns die kulturelle Demokratisierung schafft, in Entwicklungsländer einzubringen. Die europäischen Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts haben Hunderttausende Bürger zu Soldaten gemacht, die der Eroberung und Erhaltung ihrer Kolonialgebiete dienten. Damit ist es vorbei. Und könnte uns eine schönere und nützlichere Aufgabe zufallen als die, Ärzte, Lehrer und Leute aus anderen Berufen, von denen wir bald viel zu viele haben werden, dazu zu bringen, in die Welt hinauszuziehen und dort zu helfen, wo an diesen Berufen Mangel herrscht? Wir haben oft von einem neuen Menschenbild gesprochen. Hier könnten wir es mitgestalten, und zwar im globalen Sinne.
Die Sozialdemokratie in den Zwanzigerjahren
Die österreichische Sozialdemokratie – zumindest ihre theoretisch denkende Jugend – träumte von einer Revolution, einer sozialdemokratischen Revolution, was für viele in der Welt draußen als Widerspruch in sich gilt. Was soll man sich darunter vorstellen, wie sollte die Verwirklichung des demokratischen Sozialismus, noch dazu in einem bettelarmen Land, aussehen? Oder anders herum gefragt: Wie stellte sich dem 18-jährigen Aktivisten der SAJ diese Revolution konkret