Erinnerungen. Bruno Kreisky
Sozialistischen Arbeiterjugend sogenannte Zellenarbeit zu leisten. Jedenfalls brachte ich nun genügend Ausdauer mit und habe die Bewährungsprobe bestanden.
Bald schon entdeckte ich, dass ich mich in diesem neuen Kreis nicht nur gesinnungsmäßig, sondern auch persönlich sehr wohl fühlte. Ich traf dort mit jungen Menschen zusammen, die die Personifizierung all dessen waren, was mich zum Sozialismus hindrängte. Das Erlebnis der letzten Kriegsjahre, die Inflation, die Entwertung aller Werte, die Arbeitslosigkeit, alles das hatte mich aufgerüttelt und in mir das Bedürfnis geweckt, diesem Phänomen auf den Grund zu kommen. Hinzu kam, dass ich in einer intellektuellen Opposition zur Gesellschaft stand. Sonderbarerweise nicht zu meinem Elternhaus, denn im Unterschied zu vielen anderen jungen Leuten war ich mit meiner Familie nicht zerfallen.
Aber die Kluft zwischen den Klassen war mir schon früh deutlich geworden, nicht theoretisch, sondern in ihrer Realität. Beeinflusst wurde ich wohl auch durch die Individualpsychologen, die sich um meinen kranken Bruder bemühten und wochenlang bei uns im Haus verkehrten. Sie waren zum größten Teil Sozialdemokraten. Mein politisches Interesse war also längst geweckt, als ich den entscheidenden Schritt tat. Die Entwicklung war völlig unpathetisch vor sich gegangen, und den Parteibeitritt selbst empfand ich im Grunde als selbstverständlichen Formalakt.
So bin ich in die Bewegung hineingewachsen, und da ich hartnäckig blieb und immer wiederkam, hat man mich eines Tages auch in der Arbeiterjugend gelten lassen. Meine erste Rolle war, dass ich an einem Sprechchor beteiligt wurde. Das war eine vom kommunistischen »Proletkult« wiedererweckte und von der sozialdemokratischen Kulturbewegung übernommene Kunstform. Musisch interessierte und begabte Leute, die in der Lage waren, aus verschiedenen Stücken ein neues zusammenzustellen, sollten den Zuhörern auf künstlerische Art die Geschichte der Arbeiterbewegung vermitteln.
Ein Staatsmann, der österreichische Identität stiftete: Bruno Kreisky vor dem Porträt Kaiser Franz Josephs.
Weltoffen und kommunikativ: Bruno Kreisky präsentiert sich als „Mann auf Draht“. Wahlwerbung auf Zündholzschachtel zur Nationalratswahl 1975 (oben) und Image-Broschüre von Spectator (Hellmut Andics).
Die historische Chance ist da: SPÖ-Spitzenkandidat Bruno Kreisky hat die Nationalratswahl vom 1. März 1970 für sich entschieden – für Österreich der Beginn einer neuen politischen Ära.
Aufbruchsstimmung bei der SPÖ-Führung: Feierlichkeiten zum 1. Mai mit Felix Slavik, Otto Probst, Anton Benya, Otto Rösch und Karl Waldbrunner (von links nach rechts).
Der erste Sprechchor, an dem ich mitwirkte, begann mit Heines Gedicht auf die schlesischen Weber:
Im düstern Auge keine Träne,
sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
wir weben hinein den dreifachen Fluch –
Wir weben, wir weben!
Ein sehr politisches, sehr klassenkämpferisches, sehr antireligiöses Gedicht, das dem Zorn und nur sehr unterschwellig der Hoffnung Ausdruck verleiht.
Wie sehr die Kompilatoren sich über Zeit und Raum hinwegsetzten, geht daraus hervor, dass in diesem Sprechchorwerk auch die düsteren Stellen aus der Braut von Messina Verwendung fanden. Am Schluss dann die Apotheose, die durch mitreißende Arbeiterlieder zum Ausdruck gebracht wurde.
Manchmal trat bei diesen Feiern auch ein Redner auf, der dann irgendwo in der Mitte oder gegen Ende ein paar Worte sagte. Zu einer Jubiläumsveranstaltung hielt Otto Bauer eine kurze, aber wunderbare Rede. Es war großartig, wie er sich dieser Veranstaltung anpasste. Ich werde das deshalb nie vergessen, weil ich das Glück hatte, mit dem Obmann zu Otto Bauer gehen zu dürfen und ihn zu bitten, bei uns zu sprechen. Es war meine erste Begegnung mit ihm. Wir waren sehr stolz, wenn die »Alten« kamen, und hatten das Gefühl, die Veranstalter einer sozialdemokratischen Monsterkundgebung zu sein.
Es gab in den Reihen der Bewegung natürlich auch Lyriker, die für die Sprechchöre gedichtet haben, und Komponisten, die die Musik schrieben. Über diese Kunstwerke würde heute vielleicht so mancher die Nase rümpfen, aber sie waren das, was uns mitgerissen hat.
Leicht wurde es mir in der Arbeiterjugend nicht gemacht. Wenn ich einmal etwas sagen wollte und mich zu Wort meldete, was selten genug der Fall war, haben sie mich meist geflissentlich übersehen – wie der Speaker im britischen Unterhaus einen Hinterbänkler. Für diejenigen, die von vornherein gegen mich waren, war meine Herkunft noch Jahre später ein entscheidendes Argument.
Eines Tages kam, wie gesagt, mein Freund Baczewski in den Ruf, Kommunist zu sein. Er hat sich auffallend still verhalten, so still, dass einige Verdacht schöpften. Nach einer Versammlung nahmen mich die beiden Obmänner zur Seite: »Du, der Baczewski g’fallt uns net! Den haben uns die Kommunisten hereingeschickt. Im Herbst, wenn wir unsere Hauptversammlung haben, wird uns der viel zu schaffen machen. Jetzt brauch’ ma einen, der bereit ist, sich darauf vorzubereiten.« Ich hatte damals schon zahlreiche theoretische Schriften gelesen, vor allem von Lenin, und galt als sehr beschlagen in allem, was die Diskussion mit den Kommunisten betraf. Das hatte eine sehr einfache Erklärung: Ich empfand mich als linker Sozialist und musste mich daher in besonderem Maße mit der Frage beschäftigen, warum ich nicht mit den Kommunisten gehe. Den ganzen Sommer habe ich dann in Trebitsch damit verbracht, Material zu studieren. »Wenn es soweit ist«, habe ich nicht ohne Stolz gesagt, »bin ich auch bereit, von Brünn nach Wien zu fliegen.« Da gab es eine erste Flugverbindung. »Ich werde sparen und mir den Rest ausborgen. Jedenfalls bin ich da, wenn ihr mich braucht.« Diese Bereitschaft hat man mir hoch angerechnet, und als es dann zu der erwarteten Auseinandersetzung mit Baczewski kam, habe ich unsere Sache anscheinend gut vertreten. Von da an galt ich sozusagen als Spezialist für die Bekämpfung von jungen Kommunisten.
Sehr wertvoll in der Auseinandersetzung mit dem Moskauer Kommunismus waren mir die Schriften Max Adlers. Für einen Siebzehnjährigen war es geradezu eine Offenbarung, wenn er bei Adler Sätze fand wie diesen: »So wurde aus der Diktatur des Proletariats die Diktatur über das Proletariat, aus der Diktatur der Klasse die Diktatur einer Partei.« Auch Trotzki hat das in seinem Buch gegen Kautsky Terrorismus und Kommunismus indirekt zugegeben. Kautsky selbst, den Epigonen des Marxismus, zitierte ich allerdings nicht, weil er allgemein als rechtsstehend galt. Meine Trumpfkarte war Lenins Buch Der »Radikalismus«, die Kinderkrankheit des Kommunismus, in dem er mit einer erstaunlichen Offenheit die Schwächen und Fehler der kommunistischen Parteien enthüllte und seine Parteifreunde mit einer Schärfe sondergleichen behandelte.
So habe ich meine politische Laufbahn in der Jugendbewegung meines Bezirkes begonnen, und noch im gleichen Jahr, 1928, wurde ich 3. Obmannstellvertreter der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) auf der Wieden. Die Wieden, der 4. Wiener Gemeindebezirk, ist einer der kleinsten Bezirke und überdies ein bürgerlicher. Die Nazis konnten dort sehr früh Fuß fassen. So entspann sich um jeden einzelnen jungen Menschen schon bald ein harter Kampf zwischen der SAJ und der Hitlerjugend.
Auch Kommunisten zogen ständig vor unseren Heimen auf und ab und haben uns Scherereien bereitet. Ein Kommunist war ein richtiges Schreckgespenst. Da ich vor der Matura stand, hatte ich einige Übung in der Lektüre schwieriger Texte, und so habe ich mich weiterhin in die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus vertieft.
Als im Sommer 1928 die Schüler aus der Pflichtschule entlassen wurden, bekam ich