Erinnerungen. Bruno Kreisky
er sich vollkommen aus der Firma zurück und übernahm einen sogenannten One-dollar-a-year-Job bei der FAO (Food and Agriculture Organization); ab 1965 kümmerte er sich innerhalb der UNO um die industrielle Verwertung von Agrarprodukten. Als er 1973 starb, hinterließ er ein beträchtliches Vermögen.
Ich kann sagen, dass meine beiden Familien den Nazismus in seiner grauenhaftesten und umfassendsten Form erfahren haben und dass nur wenige von uns übrig geblieben sind. Über die Welt verstreut, trifft man hier und da den einen oder anderen. Jedesmal, wenn jemand herumzudividieren beginnt, ob das vier oder sechs Millionen gewesen seien, die dem Holocaust zum Opfer fielen, kann ich trotz eines gewissen Verständnisses für die Schwächen der Menschen nur sagen: Von den mir Nahestehenden wurden so viele umgebracht, dass Zahlen mich nicht mehr interessieren.
Die Brüder meiner Mutter sind allesamt zugrunde gegangen; auch einige Schwestern meiner Mutter und viele Cousins, die mir sehr lieb waren und sehr nahegestanden sind. Eine Cousine, Elfi Felix, kam als einzige aus der Hölle zurück, war aber wahnsinnig geworden. Vor ihren Augen hatte man ihre Tochter umgebracht. Sie überlebte den Krieg nur um wenige Wochen.
In einer Liste, die dem polnischen Botschafter in Wien, Karski, vom damaligen Direktor von Auschwitz übermittelt wurde, findet sich eine ganze Reihe meiner Verwandten: eine große Zahl von Angehörigen der Familie Felix, darunter mein Vetter Dr. Wilhelm Felix, ein strenggläubiger Katholik, der aufgrund der Gebote seines Glaubens die Eltern nicht im Stich lassen wollte, als diese nach Theresienstadt deportiert wurden. Er selber war Halbjude und stand den katholischen Neuländern nahe.
Auf jener Liste steht auch meine Tante Grete Felix, die verheiratet war mit dem Bruder meiner Mutter, der den Trebitscher Betrieb vom Großvater übernommen hatte, eine Frau von unendlicher Güte und außergewöhnlicher Schönheit. Auf der Liste stehen noch weitere Vettern von mir, alle aus der Familie Felix, auch Ernst Felix mit allen seinen Kindern. Dann kommen die Fischers, Berta Fischer, die Schwester meiner Mutter, mit ihren Kindern, und dann die Kreiskys, Otto Kreisky, Friederike Kreisky, Karl Kreisky, auch viele Kreiskys, von denen ich bis dahin nichts wusste. Aus der kleinen mährischen Stadt Trebitsch meldet der Bericht 650 Deportierte. Ich hatte einmal grob geschätzt, dass von unserer Familie aus Trebitsch über zwanzig der nächsten Angehörigen von den Nazis ermordet worden sind; als ich jedoch die Namen durchging, stellte sich heraus, dass es viel mehr waren. Aber ich habe nicht mehr die Kraft, diese Statistik des Grauens zu vervollständigen.
„So viele wurden umgebracht, dass Zahlen mich nicht mehr interessieren“: Bruno Kreisky im NS-Vernichtungslager von Auschwitz.
Diese Auslöschung hat so viele Zeugen gefunden, es gibt eine große Anzahl mehr oder weniger bedeutender Bücher, mehr oder weniger eindrucksvoll nachempfundener Filme und Theaterstücke, und dennoch zweifle ich manchmal, ob das alles ausreicht, die Menschheit vor Ähnlichem zu bewahren. Ich glaube es nicht. Der Massenmord hat seither nicht aufgehört, und in den letzten Jahren hat er eine so unfassbare Steigerung erfahren, dass ich mich immer wieder aufs Neue frage, ob der Kampf dagegen nicht vergeblich ist. Man kann einfach nicht überall dagegen ankämpfen; wenn man einiges Gehör finden will, muss man sich auf weniges konzentrieren. So lasse ich es bei einer sehr nüchternen Feststellung bewenden: Nur dann kann man die Menschen zu Mitgefühl und Einsicht bringen, wenn man irgendeine Saite ihres eigenen Schicksals zum Schwingen bringt. Deshalb habe ich oft gesagt, was 1938 für die österreichischen Juden begonnen hat, ging bald weit darüber hinaus. Erst kamen Juden anderer europäischer Nationen an die Reihe, dann die »Arier«, die Norweger, die Holländer, und eigentlich blieb niemand verschont. Ganz am Schluss stand die schreckliche Bilanz: Millionen Tote, Hunderttausende Vermisste, über Europa hin und her ziehend die Heere der Vertriebenen.
Es war für mich eine wirkliche Genugtuung, als ich nach dem Krieg den größten Wunsch meiner Mutter erfüllen konnte: ihre noch lebenden Schwestern nach Wien einzuladen. So gab ich ihnen noch einmal die Möglichkeit, einige Zeit miteinander zu verbringen. Aus England kam die älteste noch lebende Schwester meiner Mutter, Rachelle. Sie war die Witwe eines Mannes, der mir in meiner Kindheit ungeheuer imponiert hatte. Er war »Oberoffizial bei der k. k. privilegierten österreichischen Nordwestbahn« gewesen, ein stattlicher Mann, und in seiner roten Pelerine hatte er auf mich als Kind einen gewaltigen Eindruck gemacht. Außerdem hatte er immer sehr spannend von einem Freund erzählen können, der in der englischen Geschichte eine große Rolle gespielt hat, der berühmte Slatin Pascha. Der Sohn meines Onkels Gustl Herschmann war einer der erfolgreichsten Wiener Advokaten und vertrat zahlreiche Schauspieler des Theaters in der Josefstadt. Er hatte ein besonderes Faible fürs Theater. Als ich ihn das letzte Mal sah – er war an die neunzig und hatte ein sonderbar feines Gesicht –, hat er mir ganze Passagen aus dem Repertoire von Josef Kainz vorgetragen.
Die zweite Schwester, Eugenie Mayer, kam aus Israel, wo sie gar nicht gern lebte. Ihr Sohn war eines der Vorbilder meiner Jugend gewesen, ein schlanker, hochgewachsener Führer der Jugendbewegung »Blau-Weiß«. Er hatte sich früh dem Zionismus angeschlossen und war nach Palästina gegangen. Bei Kriegsende war er Major der britischen Armee. In der israelischen Armee wurde er später General der Pioniere. Seine Schwester, die mit einem polnischen Textilfabrikanten verheiratet war, »ging ins Gas«.
Die dritte Schwester, die überlebt hatte, war Therese Kantor, die reichste von allen, bei der ich die Stelle eines Wahlsohnes eingenommen habe – doch darüber später. Die vierte schließlich war meine Mutter. Als ich die vier Frauen nach Wien einlud, fürchtete ich, dass das Beisammensein überschattet sein werde von dem Gefühl, sich zum letzten Mal zu sehen. Wenn sie auseinandergehen, werden sie vom Abschiedsschmerz überwältigt sein, dachte ich mir. Aber das war ganz falsch. Die alten Damen waren alle froh, dass das Zusammensein, das sie sich doch so sehnlich gewünscht und auch genossen hatten, zu Ende war; endlich konnten sie wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren. Wie ich überhaupt das Gefühl habe, dass Frauen mit zunehmendem Alter immer weniger sentimental werden, während alten Männern bei jeder Gelegenheit die Tränen kommen.
Erlebnisse: Der eigene Weg in die Politik
Am 8. November 1924 nahm ich zum ersten Mal an einer Demonstration teil. Ich war noch nicht vierzehn Jahre alt. Der Sohn eines Industriellen namens Thomas Schwarz hatte sich aus dem Fenster der elterlichen Wohnung auf der Wieden gestürzt, weil er die Quälereien eines seiner Lehrer nicht mehr ausgehalten hat. Die Vereinigung sozialistischer Mittelschüler rief zu einer Protestkundgebung vor dem Gebäude des Wiener Stadtschulrats auf, und zwei Mitschüler hatten mich aufgefordert mitzukommen. Einer von ihnen wurde später Generalkonsul in Johannesburg – ein glühender Verfechter der Apartheid. So geht’s halt manchmal mit den Menschen.
Mit dieser Kundgebung für einen an den Schulverhältnissen zugrunde gegangenen Mittelschüler begann mein eigentliches Engagement und ich wurde Mitglied in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler. Da ich sehr jung war, gehörte ich in den sozialistischen Wanderbund, einen Ableger der deutschen Wandervogelbewegung. Diese große Aufbruchbewegung der deutschen Jugend hat im Leben Tausender junger Menschen eine entscheidende Rolle gespielt. Der Wandervogel hatte sich ja mehrfach gespalten; es gab unter anderem einen katholischen, einen deutschnationalen, einen eher liberalen und auch einen sozialistischkommunistischen Zweig.
»Jugendbewegt« zu sein, war auch zu meiner Zeit noch eine bestimmte Grundhaltung. Von einem gewissen Alter ab wurde das freilich mit einem leicht kritischen Unterton vermerkt. Nun machte man jedoch einen Unterschied zwischen Jugendbewegung und Jugendpflege. Unter Jugendpflege verstand man die Tätigkeit der Pfadfinder unter der Obhut von Erwachsenen, unter Jugendbewegung die sich selbst verwaltende Form des Zusammenschlusses junger Menschen.
Im Wanderbund hat es mir sehr gut gefallen. Es war die ideale Verkörperung einer neuen Gemeinschaft. Nicht mehr auf den engen Kreis der Mitschüler und der Jungen aus der Nachbarschaft begrenzt, verbrachte ich fortan meine freien Nachmittage inmitten eines Kreises, der mir das Gefühl von Geborgenheit gab und vor allem die Empfindung, einer großen, irgendwie auch politischen Aufgabe zu dienen. Meiner Neigung entsprechend, die mein Sohn einmal »missionarisch« genannt hat, habe ich mich einer intensiven Werbetätigkeit hingegeben.