Die Tote hinter der Nightwood Bar. Katherine V. Forrest
die offene Tür hinein. Vor dem Rückfenster hing ein Vorhang aus dunkelblauem Stoff mit leuchtend weißen Punkten; der gleiche Stoff trennte auch den Fahrersitz vom übrigen Bus ab. Der Rücksitz war entfernt worden, und über den Boden verstreut lagen Dory Quillins Habseligkeiten: ein zusammengerollter Schlafsack, ein Korbkasten, der wahrscheinlich als Kleiderkiste diente, verschiedene ordentlich zusammengelegte T-Shirts lagen obendrauf. In der hinteren Ecke waren auf einem wackeligen Regal Lebensmittel aufgereiht: Brot, Zwieback, Müsliriegel, Konserven, ein paar Plastikteller und Plastikbecher. Unter dem untersten Regalbrett konnte Kate eine Packung Katzenfutter ausmachen, direkt neben einem winzigen Fernseher, einem kleinen Tischgrill und einem Sack Holzkohle. Einige Dutzend Taschenbücher lagen aufgestapelt neben einem kleinen Metalltisch, der offenbar als Schreibtisch gedient hatte; ein gelber Schreibblock lag umgedreht obenauf. Unmittelbar neben der Tür lag ein Baseballhandschuh gegen die Wand gelehnt.
»Sieht nicht so aus, als hätte das jemand durchwühlt«, sagte Taylor.
Kate nickte zustimmend. Sie dachte an ihre eigene Wohnung in Santa Monica – Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, ganz zu schweigen vom Badezimmer. Alles in allem so an die fünfundsiebzig Quadratmeter. Dory Quillin hatte in weniger als vier Quadratmetern gelebt.
»Die Jungs sind jetzt alle da«, verkündete Taylor und wies mit dem Kopf zur Nightwood Bar und der Gruppe, die davor am gelben Absperrband stand. Die beiden Detectives gingen auf demselben Weg, den sie zuvor genommen hatten, zurück und auf das Team zu, das bald mit seiner Arbeit auf dem Gelände beginnen würde.
Shapiro wies zum Abhang hin und sagte mit ernster Stimme zu Kate: »Ich nehme an, Sie wollen Fotos von jedem Blatt und jedem Baum hier.«
Kate antwortete dem dürren, bärtigen Fotografen gelassen: »Ich hätte nichts dagegen, wenn sie ein paar Schnappschüsse von den Zuschauern in Ihre Hintergrundaufnahmen einbauen könnten.«
»Klar doch.« Shapiro zuckte mit den Schultern und grinste, dann stellte er seinen Koffer ab.
»Tun Sie uns noch einen Gefallen, ja«, sagte Taylor, »versuchen Sie möglichst nicht über das Opfer zu stolpern, bevor der Gerichtsmediziner kommt.«
Kate nickte Hansen zu. »Ihr Job, Fred.« Sie wusste, er würde den Tatort aufteilen und seine Leute anweisen, das Gelände systematisch und sorgfältig zu durchkämmen, während Shapiro seine Aufnahmen machte. »Wir werden wieder hier sein, wenn Everson …« Zu ihrem Ärger versagte ihr die Stimme.
Ihr war die Autopsie eingefallen. Sie wandte der Leiche von Dory Quillin den Rücken zu, als könne sie dadurch diese silberblauen Augen aus ihrem Kopf verbannen. Sie würde nicht nur diesen unauslöschlichen Anblick ihres Gesichtes weiter mit sich herumschleppen, sie würde auch das entsetzliche Bild dieses zarten Körpers auf dem Autopsietisch im Gedächtnis behalten … »Wir sind wieder da, wenn Everson sie untersucht«, sagte Kate bestimmt.
Sie ließ ihr Notizbuch zuschnappen und steckte es in ihre Jackentasche. Sie würde das oberste Prinzip der Polizeiarbeit – Objektivität – nicht verletzen! Sie würde Dory Quillin nicht erlauben, sie gefangen zu nehmen …
Sie hob ihren Blick und sah, wie Hansen sie anstarrte. Kate sah in seine dunklen Augen und lächelte leicht.
»Na los, Kate«, sagte Taylor. Er grinste und wies mit dem Daumen zur Nightwood Bar. »Lass uns reingehen und diese unfreundlichen Frauen mit unserem Charme überwältigen.«
Kapitel 2
»Teufel noch mal, was ist denn das für ’ne Bar?« murmelte Taylor.
Kate warf nur einen äußerst flüchtigen Blick auf den großen, für eine Bar ungewöhnlich hellen Raum und enthielt sich jeglichen Kommentars. Weitaus wichtiger war es, ihren Scharfsinn zusammenzuklauben, um die zehn Frauen einzuschätzen, die sich entlang der geschwungenen dunklen Theke versammelt hatten. Die Anwesenheit Taylors erhöhte ihre innere Anspannung noch.
Wo fängt meine Integrität an, wo hört sie auf? Was ist, wenn mich eine geradeheraus fragt, ob ich lesbisch bin?
Sie werden nicht fragen. Kate blickte in die Gesichter der Frauen an der Bar. Das brauchen sie gar nicht.
Sie hatte das Gefühl, nackt dazustehen, ihrer grauen Gabardinehose und Jacke entledigt zu sein, ihrer konservativen Maske, die sie in der Welt der Konventionen unsichtbar machte. Hier drinnen war ihr Innerstes bloßgelegt.
In jeder der Frauen, die zurückstarrten, erkannte sie Teile ihrer selbst. In der selbstbewussten Haltung der einen Frau, dem stämmigen Körperbau einer anderen, in dem naturbelassenen Grau eines Kurzhaarschnitts, in der praktischen Kleidung, den ungeschminkten Gesichtern, den auf praktische Länge gekürzten Fingernägeln …
Aus einer tief verwurzelten Gewohnheit heraus registrierte sie, dass zwei der Frauen Schwarze und zwei südamerikanischer Herkunft waren. Drei trugen ähnliche Baseballshorts und Hemden wie Dory Quillin, nur dass diese hier bunt waren. Eine dicke Frau in Rock und Bluse im Hippie-Stil saß mit gekreuzten Beinen da, den Rock über die Knie hochgezogen.
Die direkten, beobachtenden Blicke der Frauen durchdrangen Kate wie Röntgenstrahlen. Eine stämmige Frau in weißen Shorts, wallendem rosa T-Shirt und goldenem Gehänge an den Ohren lehnte sich flüsternd zu ihrer Nachbarin hinüber, einer Schwarzen mit kurzgeschorenem, kaum mehr als einen Zentimeter langem Haar. Die schwarze Frau grinste und nickte.
»Wer von Ihnen«, sagte Kate so gebieterisch, wie sie konnte, »ist Magda Schaeffer?« Sie hatte sich innerlich gewappnet und war auf das belustigte Gemurmel gefasst, das sich beim Klang ihrer tiefen Stimme ausbreitete.
Die stämmige Frau, die sich von einem der Barhocker erhob, war vielleicht fünfundfünfzig, mit einem grau werdenden kurzen Haarschopf, der selbstgeschnitten aussah. Ihr lilafarbenes T-Shirt steckte in knielangen Shorts, die mehr Taschen hatten, als Kate an einem Kleidungsstück jemals für möglich gehalten hätte: Vorderseite und Seiten waren mit Reißverschlüssen übersät, die Stoffschlaufen an den Seiten sollten vermutlich der Aufnahme von Taschenlampe oder Hammer dienen. Die Frau kreuzte zwei stark gebräunte Arme und betrachtete Kate aus tiefliegenden, halb geschlossenen dunklen Augen.
»Sind Sie Magda Schaeffer?«
Die Frau nickte ausdruckslos.
»Ich bin Detective Delafield. Das ist mein Kollege, Detective Taylor.«
Die Frau nickte erneut.
Wann würden sie wohl mit ihrem Schweigen aufhören? Und mit dem Starren?
»Ich habe bereits jede nur denkbare Frage beantwortet«, sagte Magda Schaeffer. Ihre Stimme war sanft, Kate hatte eher männliche Schroffheit erwartet.
»Wir müssen einige Einzelheiten erneut durchgehen, vielleicht noch mehrere Male.« Kate hob ihre Stimme, damit alle sie hören konnten, und stürzte sich, erleichtert über das vertraute Terrain, in die Erklärung von Ermittlungsverfahren. »Eine von Ihnen könnte im Besitz von Informationen sein, die wichtiger sind, als irgendwer zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorhersehen kann …«
»Scheiße.«
Die Sprecherin hing auf einem Stuhl am Ende der Bar. Eine dunkelblaue Matrosenmütze war tief über ihre scharfen, habichtartigen Gesichtszüge gezogen, ein Paar abgeschnittener Jeans enthüllten dünne, aber kräftige Waden, die Ärmel des blaukarierten Hemdes waren bis zu den Ellenbogen aufgerollt.
Sie streckte ihren Arm aus und zeigte auf Kate, richtete ihre Worte aber an Taylor. »Sie glauben wohl, es würde was ändern, wenn Sie ’ne Schwester mitbringen?«, bellte sie. »Sie hat sich an ihre eigenen Unterdrücker verkauft.«
Taylor warf Kate einen erstaunten Blick zu.
Die Frau starrte Kate an. »Macht’s Spaß, eine von den Jungs zu sein? Deine eigenen Schwestern herumzustoßen?«
Kate antwortete gelassen: »Ich stoße niemanden herum.« Sie wusste, sie musste einige Ablenkungsmanöver einleiten, die Gruppe auseinanderdividieren, sie voneinander isolieren, bevor sie sich in ihrer Feindseligkeit einmauern konnten.