Stoner McTavish. Sarah Dreher
etwas Kirschtorte«, sagte Marylou teilnahmsvoll.
»Nein danke, Liebes, sie ist nicht mehr frisch genug, um daraus zu lesen.«
Marylou ließ ihre Gabel fallen und griff sich an die Kehle. »Ich bin vergiftet!«
Stoner lachte. »Sie ist in Ordnung. Ich hatte etwas davon zum Frühstück.«
»Äääh«, sagte Marylou, »ihr seid widerlich.«
Kapitel 2
Stoner bemühte sich, ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Essen, dem Tischgespräch und den kugeligen Wandleuchtern aus Messing zu verteilen, in denen die Bienenwachskerzen tapfer vor sich hin glühten. Das Licht war golden, die Schatten fielen satt sepiabraun, und eine sanfte Süße schwang in der Luft. Von Zeit zu Zeit schaute sie verstohlen zu Mrs. Burton hinüber und fragte sich, was sie bedrücken mochte. Die alte Dame war zierlich, geradezu zerbrechlich, die Linien um ihre Augen herum scharf und tief vor Sorge. Stoner hatte nicht den Eindruck, dass die Hohlwangigkeit des Gesichts von ihrem Alter herrührte, eher von zu wenig Schlaf. Ihre Finger spielten ruhelos mit dem Tafelsilber und umklammerten den Serviettenring. Stoner kämpfte gegen das Verlangen, alle Regeln des guten Anstands über Bord zu werfen und einfach zu fragen, was ihr fehlte.
Sie versuchte, wieder Anschluss an das Gespräch zu finden. »Mein Vater meint«, sagte Marylou gerade, »dass Unkraut jetzt ganz groß im Kommen ist. Es speichert die Feuchtigkeit, spendet zarteren Gewächsen Schatten und lässt sich sogar zur Ablenkung oder als Falle für Schädlinge gebrauchen.«
»Aber es sieht so unordentlich aus«, bemerkte Tante Hermione. »Was meinen Sie, Eleanor?«
Mrs. Burton sah von ihrem Teller auf. »Verzeihung, wie bitte?«
»Was halten Sie von Unkraut?«
»Entzückend«, murmelte Mrs. Burton und pickte höflich an dem Kalbfleisch in Marsalasauce herum.
»Nehmen Sie doch noch etwas Wein, Eleanor. »Tante Hermione füllte ihr Glas nach. »Meine persönliche Vorliebe«, sie wandte sich wieder Marylou zu, »gilt der französischen Aufbaumethode. Besonders für Stadtgärten eignet sie sich sehr.«
»Ja«, sagte Marylou, »aber wir haben gerade erst angefangen, Unkraut überhaupt zu begreifen. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Denkt nur mal an dieses Schuttunkraut, ich meine Amarant.«
Stoner schmunzelte in sich hinein. Denkt nur mal an Schuttunkraut, in der Tat. Marylou würde Amarant, ohne mit den Achseln zu zucken, genauso leidenschaftlich vertilgen wie Eierbiskuits.
»Also«, erklärte Tante Hermione, »ich bin wirklich eine Freundin von Fortschritt und Veränderung, aber du wirst mir nicht weismachen, dass Schweinekohl zu irgendetwas nutze ist.«
»Außer für Schweine«, schlug Stoner vor.
Marylou und Tante Hermione starrten sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. »Du kannst hier in Boston keine Schweine halten«, sagte Marylou. »Es gibt Bestimmungen dagegen.«
»Ich meinte ja nur …«
»Ich wusste gar nicht, dass du Schweine gern hast«, warf Tante Hermione ein.
»Sie sind in Ordnung.«
Tante Hermione wandte sich an die anderen. »Manchmal wünschte ich, wir würden nicht in der Großstadt leben. Ich weiß, dass Stoner wahnsinnig gern einen Hund hätte, aber hier könnte es nur ein ganz kleiner Hund sein, und kleine Hunde sind so unbefriedigend. Besonders, wenn man so temperamentvoll und unausgeglichen ist wie Stoner.«
»Bin ich nicht«, protestierte Stoner.
»Nur in Bezug auf Hunde, Liebes. Aber Schweine! Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Genehmigung bekommen würdest, eines zu halten, nicht mal, wenn es ein sehr kleines, sehr sauberes Schwein wäre.«
»Ich möchte gar keine Schweine halten«, sagte Stoner.
»Aber wenn du gern mal ein Schwein sehen möchtest, könnten wir zur Drumlin-Farm rausfahren. Ich bin sicher, dass sie da auch Schweine halten, meinen Sie nicht auch, Eleanor?«
»Entzückend«, sagte Mrs. Burton und goss sich ein weiteres Glas Wein ein.
»Vielleicht erlauben sie dir, eins zu streicheln, obwohl ich persönlich die Vorstellung eher abschreckend finde. Aber du wirst schon wissen, was du tust, Stoner. Du weißt es ja immer.«
Oje, Tante Hermione war voll in Fahrt. Hätte sie etwas Zeit und nur den Schimmer der Aussicht auf Erfolg, würde sie versuchen, die Sachlage aufzuklären. Aber Tante Hermione war ihren sprunghaften Abschweifungen verfallen, gelegentlich betrieb sie sie geradezu fanatisch, und es gab nichts, was man dagegen tun konnte, außer abzuwarten, bis sie fertig war.
Nicht, dass Stoner irgendetwas gegen Schweine hatte. Es schienen ganz leutselige Wesen zu sein, obwohl manche Menschen die Ansicht vertraten, sie könnten extrem boshaft sein. Aber was konnten sie einem schon tun, außer mit ihren Schnauzen zu knuffen? Und dem konnte man leicht ausweichen, indem man einen Schritt zur Seite machte. Sie hatte einmal gehört, dass sie es liebten, im Ozean zu schwimmen. Eine Vorstellung, die sie zu eigentümlichen Visionen inspirierte, in denen riesige Scharen – Herden? – Völker? – von ihnen zu den Stränden galoppierten und Richtung Frankreich aufbrachen, um nach Trüffeln zu schnüffeln. Sie fragte sich, wie sie es fertigbrachten, mit diesen winzigen behuften Füßen zu schwimmen. Vielleicht war das Ganze auch bloß ein Gerücht, eine kleine, von der Regierung gezielt unter die Leute gestreute Fehlinformation, um die allgemeine Aufmerksamkeit davon abzulenken, dass die Wirtschaft gerade mit fliegenden Fahnen den Bach runterging.
Aber jetzt gab es erst einmal diesen Notstand in den eigenen vier Wänden. Nicht, dass irgendjemandes Verhalten darauf hinwies, dass etwas Dringendes anlag, außer dass Mrs. Burton bis zum Dessert vermutlich einer Alkoholvergiftung erliegen würde. Tante Hermione ihrerseits glaubte schließlich an das Schicksal, was sie der Notwendigkeit enthob, in welcher Situation auch immer, zu unmittelbaren Aktionen schreiten zu müssen – ein Standpunkt, den Stoner manchmal auch furchtbar gerne gehabt hätte, und der sie andererseits manchmal so auf die Palme brachte, dass sie am liebsten schreiend in die Nacht hinausgelaufen wäre. Marylou wiederum war stets so leidenschaftlich in was-auch-immer-gerade-geschah vertieft, dass sich alles andere – Zukunft, Vergangenheit oder atomare Aufrüstung – in ungewissem Dunst aufzulösen schien.
Stoner beneidete sie beide, obgleich der Gedanke, so zu leben, sie erschreckte. Wie Tante Hermione gern sagte: »Stoner muss immer genau wissen, wo die Ausgänge sind.«
Sie warf einen verstohlenen Blick auf Mrs. Burton, die jetzt eigentümlich langsam zitterte – oder war es eher ein extrem schnelles Schwanken? Es war schwer zu sagen, welches von beidem zutraf. Was in aller Welt, fragte sie sich erneut, konnte eine süße kleine alte Dame zu solch desperatem Verhalten treiben? Süße kleine alte Dame? Eleanor war klein – so viel war sicher, weil unübersehbar –, aber war sie süß? War sie eine Dame? Ja, war sie überhaupt, genau genommen, wirklich alt? Älter als Tante Hermione, zumindest geistig seniler, wohl schon, aber nicht unbedingt viel älter. Und man hatte schon von alten Leuten gehört, die die erstaunlichsten Dinge anstellten. Sogar süße alte Leute. Sogar süße alte Damen. Man denke nur an die zwei aus ›Arsen und Spitzenhäubchen‹– bei denen stapelten sich die Leichen wie Feuerholz im Keller. Ob es in Mrs. Burtons Keller Leichenstapel gab? Und wenn, wie viele mochten es sein? Nein, nicht mehr als eine Leiche, davon war sie felsenfest überzeugt. Mrs. Burton verfügte ganz offensichtlich nicht über die für mehrfachen Mord nötige Kaltblütigkeit.
Eine Leiche also. Begleitumstände, auslösendes Moment? Ein Kostgänger ihres Vertrauens wird unerwartet plötzlich gewalttätig. Die ältliche Frau schlägt zurück, um sich zu verteidigen, mit der Kraft, die die Todesangst verleiht. Der klassische Kopf-gegen-Kaminsims-Poker – Full House. Ein diskretes Begräbnis unterm Kohlenhaufen. Furcht und Gewissensbisse werden übermächtig. Im Schutz und Halbdunkel des Salons ihrer Handleserin kann sie schließlich die Bürde nicht länger tragen und beichtet ihre heimliche Schuld.
Was