Stoner McTavish. Sarah Dreher

Stoner McTavish - Sarah Dreher


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Sie sonst noch über ihn?«, fragte sie so gelassen, wie sie konnte.

      »Sehr wenig«, sagte Mrs. Burton. »Er sagte, er sei neu in der Stadt und arbeite in der Investmentabteilung einer Bank.«

      Oha. »Und, tat er es?«

      »Was?«

      »In der Investmentabteilung arbeiten?«

      »Oh, ja. In dem Fall stimmte es.« Mrs. Burton beugte sich vor und tätschelte Stoners Hand. »Sie müssen verstehen, Gwen hält sich selbst für ein Mädchen von eher durchschnittlichem Aussehen.«

      »Frau«, sagte Stoner.

      Marylou, die gerade im Begriff war, ihr Glas nachzufüllen, nahm von Tante Hermione das Foto entgegen. Sie stieß einen Pfiff aus.

      »Sie war ein allerliebstes Baby«, sagte Mrs. Burton. »Könnte ich nur noch einen Fingerhut voll von diesem entzückenden Wein haben, meine Liebe? Ich danke Ihnen. Ein liebes Baby. Weinte nie, schlief fast von Anfang an die Nacht durch. Sie war seitdem immer so, süß und verträglich, niemals Quengeleien, immer bemüht, Freude zu machen …« Ihre Stimme brach. »Es hat nie ein böses Wort zwischen uns gegeben, bevor er auftauchte.«

      Marylou reichte Stoner das Bild. Sie warf einen Blick darauf und verschluckte sich. Gwen war nicht unbedingt eine Schönheit im üblichen Sinn, aber obwohl das Foto aus einiger Entfernung aufgenommen und leicht verwackelt war – Billigkamera, dachte Stoner –, schien das Gesicht dieser Frau Wärme und zugleich Verletzlichkeit auszustrahlen … Aus irgendeinem Grund musste Stoner feststellen, dass sie errötete.

      »Sie ist … entzückend«, sagte sie.

      »Wie wär’s mit noch etwas Wein?«, fragte Marylou. »Ich hole noch eine Flasche.« Auf dem Weg zur Tür warf sie Stoner einen prüfenden Blick zu.

      »Lass das«, raunte Stoner unterdrückt. Sie wandte sich Mrs. Burton zu. »Gehe ich recht in der Annahme«, sie hoffte, dass ihre Stimme nicht schwankte, »dass Sie und – äh – Gwen sich über Bryan uneinig waren?«

      »Es war furchtbar.« Mrs. Burton fing wieder an zu weinen.

      »Da-da«, murmelte Tante Hermione und fügte ein weiteres Wollknäuel zu ihrem Strickzeug.

      Mrs. Burton riss sich zusammen. »Ich denke, eigentlich war es die Schuld meiner Tochter.«

      »Bitte?« Stoner sah sie entgeistert an.

      »Dass Gwyneth so … still war. Daphne war die personifizierte sprühende Lebhaftigkeit. Wo auch immer sie hinkam, stets war sie sofort Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Gwen stand immer etwas in ihrem Schatten. Sogar ihre Freunde waren verzaubert. Sobald Daphne den Raum betrat, war Gwen vergessen.«

      »Das ist unfair«, murmelte Stoner.

      »Ich machte Daphne ein paar Andeutungen, dass sie sich nicht einmischen solle, wenn Gwen mal aus sich herausging, aber natürlich hörte sie gar nicht hin. Bis mir richtig klar wurde, wie egozentrisch sie war, war das Unheil längst angerichtet.«

      »Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Stoner mitfühlend. Sie selbst hatte solche engelsgesichtigen Femmes fatales schon kennengelernt. Sie wurden vermutlich schon so geboren. Abgesehen von einer gewaltsamen Entstellung durch plastische Chirurgie war das Einzige, was man tun konnte, sie in Schlammpfützen zu schubsen.

      »Gwen hatte nie viele Verehrer. Ich versuchte, sie vor Bryan zu warnen, aber sie weigerte sich, mir überhaupt zuzuhören. Sie wurden letzte Woche getraut.« Sie begann wieder zu schluchzen.

      »Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«, fragte Stoner.

      Tante Hermione füllte das Weinglas auf.

      »Ich danke Ihnen. Sie sind auf Hochzeitsreise, im Grand-Teton-Nationalpark. Jackson Hole. Das ist in Wyoming.«

      »Ja«, sagte Stoner. »Ich weiß.«

      »Südlich des Yellowstone.«

      Stoner schob ihr Haar zur Seite. »Was bringt Sie dazu, bei Bryan Oxnard … üble Absichten zu vermuten?«

      »Ich traue ihm nicht. Und, wie Harry richtig bemerkte, sehr verdächtig ist die Sache mit dem Testament.«

      »Harry?«

      »Harriman Smythe, unser Familienanwalt.«

      »Ich verstehe«, sagte Stoner, die nichts verstand.

      »Wir haben gerade zusammen Tee getrunken, im Copley. Sie sollten es ausprobieren, Hermione. Es ist ganz entzückend.«

      »Mach ich«, sagte Tante Hermione.

      »Har – Mr. Smythe erwähnte ganz aus Versehen – Mr. Smythe würde nie einen Vertrauensbruch begehen – er erzählte mir, dass Gwen ihr Testament geändert habe. Sie hinterlässt alles …«

      »… Bryan Oxnard«, beendete Stoner den Satz.

      »Genau.« Mrs. Burtons Augen wurden wieder feucht.

      Einer Eingebung folgend wandte sich Stoner an ihre Tante. »Könntest du Marylou eine Weile in der Küche festhalten? Ich würde gern allein mit Mrs. Burton sprechen.«

      »Natürlich«, Tante Hermione nahm ihr Wollknäuel auf, »ich werde mal sehen, ob sie vielleicht hungrig ist.«

      Stoner studierte die ältere Frau, die jetzt ziemlich ruhig dasaß, die Hände im Schoß gefaltet. In würdevoller Haltung war sie bezaubernd. Genau die weiche, pfirsichhäutige Art Frau, die Großmütter sein sollten. Die Art, die Schmerzen schon oft kommen und gehen sah, und weiß, dass sie nicht für immer bleiben. Die Art, die nachts vor Sorge nicht schläft, wenn du noch spät außer Haus bist, aber am Morgen kein Wort darüber verliert. Die Art, die dir Bücher zum Geburtstag schenkt, obwohl deine Mutter auf Unterwäsche bestanden hat, und sie auch selbst einpackt. Und die nie versucht, dich dazu zu bringen, dass du dich schuldig, verlegen oder beschämt fühlst. Die solche Dinge sagt, wie: »Lass die Kleine in Ruhe, Helen. Sie ist doch noch ein Kind.«

      Sie räusperte sich. »Ich dachte, es ist vielleicht leichter zu reden, wenn wir nur zu zweit sind.«

      Mrs. Burton lächelte zögernd. »Ich weiß das zu schätzen, Stoner. Ich habe eindeutig zu viel getrunken, und das auch noch auf der Grundlage zweier Wochen, die an den Nerven gezerrt haben.« Sie warf einen vorsichtigen Blick in Richtung des leeren Flurs. »Und, offen gestanden, obwohl ich Ihre Freundin großartig finde, sie hat etwas … Überstrapazierendes.

      Ich fürchte, diese Geschichte hat mich vollständig aus der Bahn geworfen. Gwyneth und ich hatten nie zuvor einen ernsthaften Streit, wissen Sie. Aber ich bin so sicher, dass mein Gefühl in Bezug auf ihn richtig ist, und sie ist ebenso sicher, dass sie recht hat, und … na ja, es ist eben ein schrecklich hilfloses Gefühl.«

      »Das verstehe ich.«

      »Als mir klar wurde, was ich im Begriff war anzurichten, wusste ich, dass ich … wie nennen es die jungen Leute? …›cool bleiben‹ musste.«

      Stoner lachte. »So jung bin ich nicht.«

      »Ich fürchte, ich habe unsere Beziehung unwiederbringlich zerstört.«

      »Ich bin sicher, dass das nicht stimmt«, sagte Stoner. »Nicht nach so vielen Jahren.«

      »Liebe darf niemals für selbstverständlich genommen werden. Ich habe sie verletzt, Stoner, das kann ich mir einfach nicht verzeihen.« Sie hielt inne, um einen Schluck Wein zu trinken, überlegte es sich anders und stellte ihr Glas wieder hin. »Ich zwitschere ja schon wie eine Amsel«, sinnierte sie, »dabei muss man in meinem Alter besonders darauf achten, seine Würde nicht zu verlieren.«

      Stoner stützte die Arme auf die Knie. »Könnten Sie mir bitte erzählen, was Sie in dieser Sache bisher unternommen haben?«

      »Etwas Furchtbares«, sagte die Frau. »Undenkbares.«

      »Undenkbares?«

      Mrs. Burton nestelte an ihren Manschetten. »Ich ging zur Polizei.«


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