Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990. Heinz Scholz
Kritik ausgesetzt. Manche Eltern misstrauten uns – besonders in den Anfangsjahren. Galten wir doch für sie in erster Linie als einseitig ausgerichtete, kommunistische Agitatoren der „russischen SED-Machthaber“. Infolgedessen wurden Neulehrer manchmal als schlecht ausgebildete, unwissende, dümmliche und politische Spottfiguren verhöhnt. Gelegentlich oder mit Lust wurden Beispiele für deren klägliches Versagen oder unverzeihliche Fehler weitererzählt. Wir wollten natürlich durch möglichst gute Arbeit solche Entblößungen verhindern oder Vorurteile abbauen, aber mit unserer Selbstkritik verfielen wir gelegentlich auch in Selbstironie.
Ein Witz, den ich damals gern zum besten gab, zeigt, wie wir Neulehrer uns selbst auf die Schippe nahmen:
Fritzchen erzählt seinem Vater, dass sie jetzt in der Schule einen neuen Geschichtslehrer bekommen hätten, einen „Neulehrer“, und dass sie nun im Unterricht über den Alten Fritz redeten.
Und was hat er euch über den erzählt?
„Och, der heißt nicht mehr Friedrich der Große, sondern Friedrich II. von Preußen … dann hat er drei Kriege gegen Maria Theresia geführt und Schlesien erobert.“ – Und was noch?
„Zum Schluss ist er ermordet worden.“ „Was?“ sagt der Vater, „das stimmt auf keinen Fall, Friedrich der Große ist eines ganz natürlichen Todes gestorben! Sag das deinem Lehrer!“
Fritzchen am nächsten Tag in der Schule hält das nun in gleichem Wortlaut seinem neuen Geschichtslehrer vor. – Dieser Lehrer lächelt überlegen: „Nein, nein, Fritzchen, da irrt sich dein Vater.“ Er geht zum Schrank, holt ein dickes Buch hervor, blättert darin und zeigt dann auf die Abbildung auf einer aufgeschlagenen Buchseite und sagt: „Siehst du, Fritzchen, hier unter diesem Bild steht ganz deutlich geschrieben: Friedrich der Große auf dem Totenbette nach einem Stich von Adolph von Menzel!“ –
Zehn Jahre später, nachdem die erste akademisch gebildete Lehrergeneration mit uns vermischt war und es einigen unter diesen diplomierten Fachlehrern mitunter schwer fiel, neben bewährten Neulehrern gut zu bestehen, war dieser Witz nicht mehr aktuell.
Mitte der fünfziger Jahre, im Zuge einer Lockerung nach dem 17. Juni 1953, wurden einige der ehemaligen Lehrer aus der NS-Zeit wieder als Lehrer eingestellt. Damit begründet, dass sie, nunmehr als einstige „nur nominelle Mitglieder der NSDAP“ eingestuft, rehabilitiert worden wären. Andererseits – wie wir dachten –, um die personellen Lücken zu schließen, die durch die zunehmende Fluktuation von Lehrern in den „Westen“ entstanden waren.
Unser Schulhaus und seine Ausstattung
In den ersten fünfziger Jahren waren die Wunden und Folgen des Krieges überall noch zu spüren. Sie zeigten sich ringsum in den mangelhaften materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen, vor allem in der großen Wohnungsnot, im Mangel an Lebensmitteln, Kleidung und Schuhen und in der allgemeinen Knappheit an allen notwendigen Bedarfsgütern für das tägliche Leben. Normalverbraucher oder „weniger produktive“ Berufstätige erhielten auf Lebensmittelkarte die minimale bzw. normale Zuteilung an Lebensmitteln. Dagegen bekamen privilegierte Helfer des neuen Regimes oder entsprechend eingestufte Berufsgruppen (z. B. Funktionäre, Schwerstarbeiter, Ärzte und wir Lehrer) etwas höhere Lebensmittelrationen zugesprochen. Natürlich gab es im Unter- oder Hintergrund des öffentlichen Lebens immer noch Schwarzhandel und Tauschgeschäfte, durch die sich manche Leute zusätzlich Lebensmittel oder andere begehrenswerte Güter zu verschaffen wussten. Die Städte sahen noch trostlos aus. Der Schutt war zwar inzwischen aus Straßen und Häuserlücken geräumt, aber Neues längst nicht aufgebaut. Wenigstens an einigen wichtigen öffentlichen Gebäuden waren die Bombenschäden behoben worden.
So auch am Gebäude unserer Löfflerschule. Mancher hat geklagt über den kasernenartigen Klinkerbau aus der Gründerzeit, über die engen, dunklen Korridore und die ölig stinkenden Holzfußböden.
Das hat mich nicht gestört, kannte ich doch kaum bessere, schönere Schulgebäude dieser Größe. Immerhin hatten wir eine schuleigene Turnhalle, eine Aula und einen großflächigen Pausenplatz. Zum anderen wussten wir alle, dass das Gebäude im Krieg durch Bomben beschädigt und erst 1948/49 wieder aufgebaut und als Schule notdürftig eingerichtet worden war. Da mussten wir Unzureichendes in Kauf nehmen. Eine dieser Unzulänglichkeiten war der schlechte Zustand der im flachen Hofgebäude befindlichen Toiletten – mit hölzernen Reihen von Plumpsklos. Hygienisch kaum vertretbar. Aber von wo hätte man in den Nachkriegsjahren eine neue, metallene Sanitärtechnik für Wasserspülung hernehmen sollen? So blieb nichts anderes übrig, als für akkurate Reinigung zu sorgen. Und die Kinder damals waren weder verwöhnt noch sehr wählerisch. Das mit den übel riechenden Pissrinnen oder Gruben, das war nun mal so; man kannte es nicht anders und richtete sich auf die Gegebenheiten ein.
Eine erhebliche Beeinträchtigung unseres Unterrichtsbetriebes war auch die völlig unzureichende Beheizung der Klassenräume während der Winterzeit. Dies lag zum einen an den 50 Jahre alten, schlecht heizenden Kachelöfen und an den mit ungeeignetem Material neu gebauten Ersatzöfen, hauptsächlich aber am Mangel an Brennstoffen. Zum größten Teil wurde Rohbraunkohle angeliefert, meistens noch feucht. Braunkohlenbriketts, die für diese Kachelöfen besser geeignet waren, gab es nur in geringen Mengen. Herr Knapp, unser Hausmeister, musste die tägliche Kohlenmenge für 24 Klassenräume in Eimern bis in die 3. Etage hoch tragen! Große Jungen halfen, so gut das möglich war. In den Wintermonaten war es üblich geworden, die Eltern zu bitten, ihren Kindern, wenn möglich, ein paar Kohlen mitzugeben in die Schule. Da lagen des Morgens zu Beginn des Unterrichts zwei, drei oder mehr Briketts in Zeitungspapier eingewickelt vor dem Ofen im Klassenzimmer oder ein Scheit Holz, was wir dann zusätzlich ins Feuer warfen. Trotzdem saßen die Kinder in Mänteln oder dicken Jacken in ihren Bänken.
In harten Frosttagen, wenn in den Räumen kaum 8 Grad Wärme erreicht wurden, durfte die Unterrichtszeit verkürzt werden. Bei anhaltendem Frost bestellten wir die Kinder zu einer bestimmten Uhrzeit, um ihnen lediglich Hausaufgaben zu erteilen. Herrschten längere Frostperioden, musste jeglicher Unterricht ausfallen, oder die Schulbehörde verfügte, besonders schlecht zu beheizende Schulen über Wochen ganz zu schließen. Das betraf auch die Löfflerschule. Unser Unterricht fand dann in einer Nachbarschule statt – nachmittags und natürlich verkürzt, so dass eine Zeit lang zwei Schulen, in einem Gebäude zusammengelegt, im Wechsel vormittags oder nachmittags Unterricht hatten. – Die Einführung der dreiwöchigen Winterferien im Februar ist damals auch damit begründet worden, dass auf diese Weise Brennstoffe und Energie gespart würden. So waren die Wintermonate, die unter normalen Bedingungen eine intensive Schul- und Lernarbeit begünstigten, für die Löfflerschule in Schuljahren mit kalten Wintern weniger effektiv. Gefroren während des Unterrichts haben wir zu Winterszeiten fast immer – Schüler wie Lehrer.
Auch die Ausstattung der Unterrichtsräume entsprach dem Mangelzustand in der Nachkriegszeit. Die Möbel in den Klassenräumen stammten vorwiegend aus vergangenen Jahrzehnten. Da standen in den Klassenräumen der Unterstufe noch die alten Viersitzer aus wilhelminischer Zeit, bei den größeren Schülern ramponierte Klappsitzer aus den zwanziger Jahren. Nach und nach kamen neue feststehende Bänke, danach auch zweisitzige Tische mit Stühlen dazu. Insgesamt aber blieb das Mobiliar in schlechtem Zustand; denn das neue Gestühl, aus Materialmangel leider zu leicht gebaut, musste immer wieder repariert oder zu früh ausgesondert werden.
Lehrerin Lotte Schmidt-Berger in ihrer Klasse 1950.
An den kahlen Wandflächen der Klassenräume wurden Bilder aufgehängt – Abbildungen von Dichtern und, wo es hinpasste, von Wissenschaftlern oder anderen bedeutenden Persönlichkeiten, vorzugsweise aber von zeitgenössischen Politikern und bekannten Funktionären aus der Arbeiterbewegung. Die Klassenlehrer, dafür verantwortlich gemacht, versuchten die Auswahl der Bilder zu beeinflussen. Mir gelang es, mich am Ulbricht-Bild vorbeizudrücken und auf Wilhelm Pieck auszuweichen oder am ehesten Karl Marx an die Wand zu hängen. Wir Deutschlehrer rückten natürlich bedeutende Dichter und Schriftsteller in den Vordergrund unserer Auswahl. Doch kein verantwortlicher Klassenlehrer kam daran vorbei, wenigstens einem der obligaten