Kunstmord. Petra A. Bauer
Gemälde auf der Staffelei. Er merkte, wie er rot wurde, und konnte Eva nicht in die Augen sehen, nun, nachdem ihm dies eingefallen war. Zu obszön war das Bild. Er fragte sich, ob Alfons sich wirklich im Griff haben konnte, wenn sie vor ihm saß, die Beine gespreizt, keinerlei Geheimnisse mehr verbergend.
Er selbst hatte so was nur ein einziges Mal gesehen, bei Lenchen. Sie war die Einzige, die ihm das je gestattet hatte. Und auch nur ein einziges Mal. Danach hatte sie stets darauf bestanden, dass er das Licht löschte, bevor er sie berühren durfte.
Victor war wütend auf Eva, weil sie ihn an Lenchen erinnert hatte. Es tat zu weh, auch heute noch. Weshalb mussten alle Menschen sterben, die er liebte?
Eva beachtete sein mürrisches Schweigen nicht. Sie redete und redete, während sie ihn auf seinem Weg begleitete. Als er schon dachte, sie würde ihr Geschnatter niemals abstellen, winkte sie ihm fröhlich zu.
«Ick muss jetzt hia lang! Da wohn ick nämlich! Schön’ Tach noch! Vielleicht sehn wia uns ja mal wieder!»
Bitte nicht, dachte Victor und setzte seinen Weg grußlos fort. Als er einige Meter gegangen war, überlegte er es sich anders. Er konnte selbst nicht sagen, woher dieser plötzliche Impuls kam. Doch er hatte mit einem Mal das Gefühl, es könne nicht schaden zu wissen, wo Eva wohnte. Vielleicht lag es an der Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, wenn er sie nicht gerade wie einen Wasserfall reden hörte. Ein gewisses sexuelles Verlangen ließ sich nicht leugnen, und schuld daran war Alfons’ Bild.
Vorsichtig sah er um die Hausecke in die Dieffenbachstraße hinein, denn sie sollte natürlich nicht wissen, dass er ihr folgte.
Er hatte Glück, sie war beschäftigt. Ein riesiger Kerl stand vor ihr und redete auf sie ein. Redete? Er brüllte. Und zwar so laut, dass Victor es mühelos hören konnte.
«Wo kommste um die Zeit wieda hea? Wenn dit nich bald uffhört, zieh ick aba andre Saiten uff, haste mir verstan’n?» Der Hüne packte sie hart am Arm, schüttelte sie und zog sie in den Hauseingang.
Das musste Karl Kasulke sein, der Kerl, von dem Alfons gesagt hatte, dass kein Gras mehr wüchse, wo der hinschlug.
Zuerst waren es nur die Blicke gewesen, die bei seinem stets höflichen Gruß förmlich auf den Grund ihrer Seele zu blicken schienen. Er hatte bei jeder Begegnung galant den Hut gelüftet, dann hatten seine stahlblauen Augen sie förmlich gefangen genommen.
Anfangs hatte sie versucht sich einzureden, dass dies alles nur in ihrer Einbildung passierte, doch die «zufälligen» Begegnungen hatten sich gehäuft, die Blicke waren eindringlicher geworden. Bis er sich ihr eines Tages anschloss, als sie sich alleine auf den Weg in die Stadt machte, um etwas zu besorgen. Freundlich hatte er gefragt, wo der Weg sie hinführe und wie es den Kindern und dem Gatten gehe.
Der Herr wohnte im Aufgang nebenan und schien so einiges über sie zu wissen. Dabei ging es hier eigentlich weitaus anonymer zu als in der Gegend, in der sie vorher gewohnt hatten. Ein wenig unheimlich war er ihr schon gewesen, vor allem diese Blicke, mit denen er sie weiterhin durchbohrt hatte.
Später waren zufällige Berührungen hinzugekommen, die sie anfangs erschreckt hatten, die sie jedoch nach einiger Zeit als durchaus angenehm registrierte. Er benutzte ein ganz besonderes Rasierwasser. Es gefiel ihr, denn es roch so männlich.
Bald war die regelmäßige Begleitung auf ihren Spaziergängen zum festen Ritual geworden, und als er eines Tages ihre Hand nahm, zog sie sie nicht weg, obschon sie sich augenblicklich umschaute, ob jemand sie sah. Aber sie waren weit weg von ihrer Wohngegend.
Nachts lag sie wach, von Gewissensbissen geplagt. Was tat sie da? Was setzte sie aufs Spiel? War es das wert? Gleichzeitig beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass sie nichts Verbotenes tat. Harmlose Spaziergänge, nicht einmal ein Kuss. Ein guter Freund war er ihr mittlerweile geworden, weiter nichts.
Immer öfter ließ sie den kleinen Karl-Heinz bei einer Nachbarin und schob wichtige Erledigungen vor, bei denen sie den Kleinen nicht mitnehmen konnte. Das Hand-in-Hand-Laufen wurde intensiver. Er streichelte sie dabei mit seinen Fingern. Und eines Tages, in einer verschwiegenen Stelle im Park, ein Kuss, erst zart, dann leidenschaftlich und immer fordernder. Ein lange verloren geglaubtes Gefühl machte sich in ihrem Unterkörper breit und ließ sie alle Vorsicht vergessen. Sie war wild entschlossen, sich ihm auf der Stelle hinzugeben, doch dann hörte sie in der Ferne Kinderlachen, und das holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück.
«Ernst», sie schob ihn von sich, «wir können so nicht weitermachen. Ich darf dich nicht mehr sehen.» Fluchtartig verließ sie den Park und musste sich die rotgeweinten Augen mit Brunnenwasser kühlen, bevor sie in die Wohnung zurückkehrte.
Doch zum Glück war niemand zu Hause, und sie konnte sich wieder in einen einigermaßen passablen Zustand versetzen. Allerdings nur äußerlich. In ihr drin, ganz tief, wüteten Lust und Verzweiflung, und die Erinnerung an den Kuss ließ ihre Hand in den Schoß wandern, wo sie sie beließ, bis sie sich Erleichterung verschafft hatte. Noch nie hatte sie Derartiges getan, und sie war mehr als erschrocken über sich selbst. Im Spiegel überprüfte sie, ob man ihr den Frevel ansah, den sie soeben begangen hatte. Hektisch rote Wangen strahlten ihr entgegen. Sie schrubbte ihre Hände mit Seife und begann dann, energisch Kartoffeln zu schälen, zerteilte sie, als gälte es, jemandem die Kehle durchzuschneiden. Was hatte sie nur getan?
VIER
KAPPE saß im Bureau und konnte es nicht fassen. Da hatte er zum Einschlafen an etwas Schönes denken wollen und war ausgerechnet bei Brettschieß gelandet! An so viel konnte er sich zumindest noch erinnern. Und daran, dass er sich Sorgen gemacht hatte, was aus ihm und seiner Familie werden würde, wenn die Zustände sich hier weiter änderten.
Er versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, um wenigstens etwas zu den Akten legen zu können. Zum Beispiel den Fall Paula Krauß, geborene Saenger. Sie waren gerufen worden, weil die Frau des Schauspielers Werner Krauß tot in ihrer Dahlemer Villa aufgefunden worden war. Werner Krauß war selbst dem kulturell eher wenig interessierten Kappe bekannt, weil Klara ihn vor rund zehn Jahren ins Kino geschleppt hatte, als Das Cabinet des Dr. Caligari lief. Krauß spielte in dem Film die Hauptrolle, die ihm schließlich zum Durchbruch verholfen hatte. Jetzt – so ganz ohne Filmschminke – hätte Kappe den Mann beinahe nicht wiedererkannt. Außerdem stand er unter Schock, was ihn noch älter erscheinen ließ.
«Wieso hast du mir denn kein Autogramm mitgebracht?», war Klaras erste Reaktion gewesen, als er davon berichtete. So war sie, seine Klara. Kappe seufzte bei dem Gedanken daran, wie pietätlos sie sein konnte. Wo sie doch selbst gerne etwas Besseres gewesen wäre.
Aber ob sie dann glücklicher wäre? Paula Krauß war sicher «etwas Besseres» in Klaras Sinne, doch die Ermittlungen hatten ergeben, dass die Dame eindeutig Hand an sich selbst gelegt hatte. So etwas tat kein glücklicher Mensch. Was hatte sie von all dem Glanz, in dem sie sich dank ihres Mannes sonnen konnte? Wer wusste schon, ob nicht gerade das die Depression ausgelöst hatte, die dieser Selbsttötung vermutlich zugrunde lag?
Kappe lochte die Papiere und heftete sie in den Ordner, der für Selbstmörder reserviert war. Fall abgeschlossen, Deckel zu. Was blieb von einem Menschenleben?
Das brachte ihn erneut dazu, darüber nachzudenken, welches Schicksal ihm und den Seinen beschieden wäre, wenn Brettschieß’
«anderer Wind» erst einmal durch die Gänge des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz wehen würde.
Als er 1910 nach Berlin gekommen war, hatte er noch hochfliegende Träume gehabt. Kriminaler hatte er werden wollen, und dieser Traum hatte sich auch erfüllt, nachdem er maßgeblich an der Aufklärung des Falles um eine verkohlte Leiche in Moabit beteiligt gewesen war.
Er hatte seine Arbeit gut gemacht und sich wohl gefühlt in der Gemeinschaft des Präsidiums am Alexanderplatz. Selbstverständlich war er nicht mit allen gleich gut ausgekommen. Da war beispielsweise der alte Oberregierungsrat von Canow. Waldemar von Canow hatte so manche Fehlentscheidung getroffen, und Kappe war öfter mit ihm aneinandergeraten. Aber wenigstens hatte «die größte Schlaftablette Berlins», wie von Grienerick ihn nannte, sich nicht in ihre tägliche