Kunstmord. Petra A. Bauer
wissen, überall steckte er seine Nase hinein, egal, ob ihn die Angelegenheit etwas anging oder nicht.
Von Canow hatte auch taktische Entscheidungen getroffen, mit denen er bei den Herrschenden möglichst nicht aneckte, und das hatte ihm wieder und wieder Kappes Zorn eingetragen. Doch Kappe fürchtete, dass von Brettschieß noch viel Schlimmeres zu erwarten war. Der war in Kappes Augen eine falsche Schlange. Das würde Kappe natürlich niemals laut sagen, zumindest nicht hier im Präsidium. Er hatte Familie und somit Verantwortung. Er konnte seinen Arbeitsplatz nicht aufs Spiel setzen. Doch irgendwann musste er sich seine Bedenken wenigstens mal von der Seele reden.
Er würde sich gerne mal wieder mit seinem alten Freund Gottlieb Lubosch treffen. Mit Liepe, den er seit Kindertagen kannte, hatte er bisher immer über alles reden können. Doch leider hatte dieser sich zwei Jahre zuvor als Hotelbesitzer in Bad Saarow niedergelassen, da konnte Kappe nicht mal eben auf einen Sprung nach Dienstschluss vorbeischauen.
Trotzdem wollte er es gerne einmal einrichten. Vielleicht konnte er Klara mit einem Wochenendausflug überraschen? Kappe bekam kurzfristig gute Laune, bis er sich bewusst machte, dass Klara schon mehrmals die Nase gerümpft hatte, weil ihr die Beschreibung, die Liepe vom Hotel geliefert hatte, nicht vornehm genug gewesen war. Außerdem – wer sollte denn die Kinder nehmen? Mitnehmen wollte und konnte er sie nicht, sonst wäre das Wochenende keine Erholung.
Andererseits, wenn Klara dabei war, konnte er auch nicht offen mit Liepe über das reden, was ihn bedrückte. Genaugenommen konnte er dann überhaupt nicht reden. Wenn Liepe und er, manchmal auch noch Theodor Trampe und Ludwig Latzke, in Männerrunde zusammensaßen, passte keine Frau dazwischen. Männergespräche waren eben manchmal deftiger, und nicht alles war für Frauenohren bestimmt. Außerdem wollte er mit seinem besten Freund auch über Klara reden. Also war die ganze Expedition eine Schnapsidee – es sei denn, er konnte sich unauffällig alleine auf den Weg machen.
Sofort packte ihn das schlechte Gewissen. Klara hatte doch so schon genügend mit den Gören zu tun, wie Kappe die Kinder insgeheim nannte. Wenn er jetzt auch noch am Wochenende verschwand, ohne dass er dienstlich gebraucht wurde … Moment – ob das die Lösung war? Er könnte einen Einsatz vortäuschen.
Diese Überlegungen machten das schlechte Gewissen nicht besser. Doch er kam auf andere Gedanken, als Gertrud Steiner ihm eine Akte hereinreichte.
Kappe warf einen Blick darauf. «Was soll ich denn damit?», rief er ihr hinterher. «Da ist doch niemand umgekommen!»
Aber Bockwurst-Trudchen, wie die Abteilungssekretärin ihrer Leidenschaft für ebendiese Wurstwaren wegen auch genannt wurde, hörte ihn schon nicht mehr. Trotz ihrer Leibesfülle war sie nämlich erstaunlich flink.
Seufzend sah Kappe noch einmal auf die Akte. Es ging um einen Einbruch in der Flemingstraße in Thiergarten. Die Gebrüder Sass waren mal wieder bei einem Einbruch überrascht und verhaftet worden.
Seit 1927 führten die beiden Einbrecher, die aus ärmlichen Verhältnissen stammten, die Polizei schon an der Nase herum und genossen dabei in der Bevölkerung gewisse Sympathien, da sie das erbeutete Geld auch unter den Leuten verteilten. Wie einst Robin Hood nahmen sie von den Reichen und gaben es den Armen – behielten vermutlich jedoch auch etwas für sich. Dummerweise hatte man ihnen bisher nichts Konkretes nachweisen können, zumal die beiden sich inzwischen auch einen pfiffigen Anwalt leisten konnten.
Offenbar hatten sich die Kollegen jedoch wieder auf die Lauer gelegt. Vielleicht war Franz und Erich Sass diesmal etwas nachzuweisen. Die Polizei hatte sich schon lange genug der Lächerlichkeit preisgegeben.
Wie auch immer, die Akte war bei ihm falsch. Kappe machte sich auf den Weg, um sie den rechtmäßigen Bearbeitern zu bringen. Eine willkommene Ablenkung für ihn. Im Bureau grübelte er heute einfach zu viel.
Die Frau sprach ihn an, als er gerade in die Studie zu einem Katzenbild vertieft war. Nicht, dass er Katzen besonders mochte, jedoch verkauften sich solche Bilder erstaunlich gut, und wollte er das Geld für Paris irgendwann zusammenbekommen, so musste er eben auf Kundenwünsche eingehen. Die eigentliche Kunst machte er nebenher, auch wenn ihn mitunter das Gefühl beschlich, dass er dafür kaum noch Zeit hatte.
Er sah mürrisch von seiner Arbeit auf. Zumindest mürrischer, als er gewollt hatte, denn Kunden zu vergraulen lag nicht in seiner Absicht. Er hatte sie von weitem im Augenwinkel unter «blond und hübsch» abgebucht, nun jedoch, da sie nahe vor ihm stand, sah er, dass das Blond bereits von dünnen grauen Strähnen durchzogen war und sie sicher einmal noch hübscher gewesen war. Doch hatten sich einige Falten zum Teil schon tief in ihre Haut gefressen.
«Hallo …», sagte sie, offenbar unschlüssig, was sie noch hinzufügen sollte.
Er erwiderte den Gruß mit einem scheuen Lächeln. Vermutlich würde er sich nie an den Kontakt mit den Kunden gewöhnen, denn es waren ja Menschen, und Menschen, das wusste er, waren unberechenbar.
Mitunter glaubte er, dass seine Mitmenschen einzig dazu auf der Welt waren, um Pläne zu durchkreuzen. Jemand nahm sich etwas vor, und ein anderer versuchte, ihn daran zu hindern, als sei dies alles Teil eines teuflischen Plans. Victor hasste diese Vorstellung, und doch schien sie ihm allzu wahr. So bemühte er sich, den Kontakt zu anderen so weit wie möglich zu vermeiden.
Er suchte Verlässlichkeit, nichts durfte sich seinen Zielen in den Weg stellen. Menschen waren eine potenzielle Bedrohung, vor allem, wenn sie älter als fünf Jahre waren, obwohl er auch mit diesen kleinen Kerlchen schon üble Überraschungen erlebt hatte. Zum Beispiel der kleine Junge, der ihm Matsch auf ein fast fertiggestelltes Bild geworfen hatte. Die Mutter war schier untröstlich gewesen, doch bezahlt hatte sie den Schaden nicht.
Was mochte die Frau jetzt wollen, die ihn aus großen blauen Augen forschend anstarrte? Mit einem Mal zuckte er zusammen. Konnte es sein, dass sie ihn aus Argwohn so ansah? Auch wenn er zuweilen nicht sehr an der Welt um ihn herum interessiert war,
sofern er sie nicht malen oder zeichnen konnte, so war ihm doch nicht verborgen geblieben, dass Stimmen laut geworden waren, die all jene verteufelten, die nicht blond und blauäugig waren.
Doch er schien sich in ihr geirrt zu haben.
«Schöne Bilder, junger Mann. Man sieht die Leidenschaft darin.» Sie hielt inne, als erwarte sie eine Antwort auf ihre nicht gestellte Frage.
Doch er lächelte nur. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, besann sich dann jedoch, mit der Grübelei aufzuhören. Vermutlich gefielen ihr tatsächlich einfach nur die Bilder. Weshalb war sie ihm dann aber so besonders aufgefallen?
Am Wochenende kam Kappe endlich dazu, die Zeitungen der letzten Tage durchzublättern. Hier und da blieb sein Blick an einem Artikel hängen. Normalerweise las er kommentarlos, heute jedoch schüttelte er heftig den Kopf: «Jetzt wird unser schöner Sportpalast schon wieder für eine Kundgebung dieser NSDAP genutzt! Machen die das jetzt jeden Monat?»
«Was haben die denn wohl zu verkünden?», wollte Klara wissen.
«Dieser Hitler und der andere da, Joseph Goebbels, reden über ‹Raum für unser Volk›. Und ich fürchte, sie meinen nicht, dass wir neue Wohnungen bauen sollen.»
«Was wollen die eigentlich?»
«Das wüsste ich auch gerne. Bisher habe ich nur mitbekommen, was sie nicht wollen: Juden und Menschen aus anderen Ländern. Am liebsten würden sie wohl auch noch verbieten, dass jeder sagen darf, was er denkt. Aber zum Glück können selbst die das nicht verhindern.»
«Dafür müssten sie überhaupt erst mal an der Regierung sein. Und es wird ja wohl niemand so dumm sein, die zu wählen!»
«Dein Wort in Gottes Ohr, Klärchen. Aber vergiss nicht: Mit der Dummheit der Menschen sollte man immer rechnen. Es gibt ja offenbar Leute, die es gut finden, was die NSDAP zu sagen hat,
sonst würden sie ihre Kundgebung in einer Eckkneipe abhalten und nicht im Sportpalast. Da passen immerhin rund zehntausend Menschen hinein. Wir werden ja sehen, wie die im September bei den Reichstagswahlen abschneiden.»
«Wenn ich ehrlich bin, mag ich über solche Dinge gar nicht nachdenken. Es gibt doch auch