Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an. Susanne Rüster

Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an - Susanne Rüster


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das Mädchen einfach verrückt, oder es hatte ein schlechtes Gedächtnis für Gesichter. Es gab viele Möglichkeiten. Er schluckte das ungute Gefühl, dass das Mädchen ihn tatsächlich nicht zum ersten Mal sah, hinunter.

      „Sie haben Glück, es sind noch wunderbare Logenplätze zu haben“, sagte das Mädchen eifrig, „von dort haben Sie einen hervorragenden Blick.“

      Berger warf einen Blick auf die aushängende Preisliste und runzelte die Stirn. „Und sonst? Gibt es auch noch Plätze, die etwas weniger extravagant sind?“

      „Bedaure, leider nein.“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern und musterte Berger irritiert. „Sie nehmen doch immer die Logenplätze?“

      Berger stöhnte innerlich auf und beschloss, dem Spiel ein Ende zu bereiten. Er zückte den Ausweis und gab sich als Kommissar der Berliner Polizei zu erkennen.

      „Verzeihen Sie bitte, es muss sich hier um eine Verwechslung handeln. Mein Name ist nicht Mantey. Ich war noch nie in diesem Theater. Aber ich möchte nun mit meiner Frau gemeinsam in die Vorstellung zum Jahreswechsel. Gibt es wirklich keine günstigeren Plätze mehr?“

      Durch das Mädchen an der Kasse ging ein Ruck. Ihr Blick glitt zwischen dem Ausweis, den Berger ihr hinhielt, und dem Gesicht des Kommissars hin und her. Sie schien sichtlich irritiert zu sein.

      „Nein, Herr Mantey, ich meine Herr … Sie sind spät dran, die Vorstellung für Silvester ist so gut wie ausverkauft.“

      Berger zückte seufzend das Portemonnaie. „Gut, dann zwei Karten. Loge. Bitte.“

      Er zählte das Geld ab und reichte es der jungen Frau durch den Spalt in der Glasscheibe hindurch. Sie schob ihm zwei Theaterkarten zu. „Ich bin sicher, Ihre Begleitung wird sich sehr über die Einladung freuen und Ihre Mühe zu schätzen wissen.“

      „Das will ich hoffen.“ Während Berger die Theaterkarten sorgfältig in seiner Mantelinnentasche verstaute, blitzte für einen Moment Martas Gesicht vor ihm auf. Wenn sie ihm nur wieder gut war. Er hasste es, sich mit ihr zu streiten.

      Dann fiel ihm ein, dass er ja noch aus einem anderen Grund hier war. Er kramte in seinem Mantel nach dem Foto der Ermordeten aus dem Tiergarten und hielt es an die Glasscheibe. „Noch etwas bitte: Kennen Sie diese Frau?“

      Mit einem leisen Aufschrei führte das Mädchen die Hand zum Mund. Sie taumelte zwei Schritte zurück und ihr Gesicht verlor das letzte bisschen Farbe. Sie starrte das Foto an, dann Berger, der wartend vor der Kabine stand, und dann wieder das Foto. Urplötzlich kam etwas Hektisches in ihre Züge.

      „Also, was jetzt, kennen Sie die Frau?“, hakte Berger nach.

      Die Kartenverkäuferin rang nach Worten und schüttelte dann heftig den Kopf. „Ich muss jetzt schließen!“

      Ohne Bergers Erwiderung abzuwarten, ließ sie rasselnd die Rollläden herab. Dumpfes Türenschlagen erklang, dann war es still.

      „Hallo? Fräulein?“ Berger klopfte vorsichtig an die Scheibe, doch alles blieb ruhig. Das Mädchen schien durch die Tür ins Theaterinnere verschwunden zu sein.

      „Merkwürdig“, brummte Berger und stopfte das Foto in seine Manteltasche zurück. „Lässt mich einfach hier stehen.“ Er blickte sich nochmals im Foyer um, doch es lag wie zuvor verlassen im Halbdunkel. Kein Ansprechpartner weit und breit. Berger zuckte die Schultern und beschloss, gegen Abend wiederzukommen. Vielleicht würde er dann jemanden antreffen, der etwas weniger verrückt war als diese Kartenverkäuferin.

      Berger verließ das Theater und blieb unschlüssig auf der Straße stehen. Wenn er ehrlich war, verspürte er wenig Lust, ins Präsidium zurückzukehren. Aber was blieb ihm übrig? Und vielleicht hatten Hegmanns oder Lichtenberg inzwischen irgendetwas herausgefunden. Er zündete sich eine Zigarette an, um noch ein wenig Zeit zu überbrücken, bevor es wieder an die Arbeit ging. Und plötzlich war da wieder dieses merkwürdige Gefühl im Nacken. Er fühlte sich beobachtet. Berger wirbelte herum und erhaschte einen Blick auf eines der Fenster des Wintergartenvarietés. Der Vorhang wurde in Windeseile zugezogen, doch Berger schien es, als hätte er die schemenhaften Gesichter einiger junger Frauen hinter der Scheibe gesehen. Verdutzt stand er einen Moment wie angewurzelt. Berger wusste, er war aus den besten Jahren heraus. Es passierte nicht ständig, dass junge Frauen ihm aus Fenstern hinterher spionierten.

      Der Kommissar schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung. Unvermittelt setzte Schneefall ein und schon nach kurzer Zeit war sein Mantel über und über mit weißen Flocken bedeckt. Vor einer Litfasssäule blieb er stehen und wischte sich leise fluchend den Schnee vom Ärmel. Das Schneegestöber war so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sah. „Verfluchtes Weihnachten!“

      Mitten in der Bewegung erstarrte Berger. Sein Blick heftete sich an ein Plakat, das direkt vor ihm an der Säule hing. Es zeigte die junge Frau, die man am Morgen ermordet im Tiergarten gefunden hatte. Auf dem Plakat stand sie als Tänzerin auf einer Revuebühne und lächelte strahlend. Wie in Trance las Berger den Text: „Melissa Alvers, der Star am Revuehimmel. Jetzt im Wintergarten!“

      Irgendetwas in Bergers Hirn überschlug sich. Blitzhaft tauchten Bilder vor ihm auf, die junge Frau, ihr Lachen, er neben ihr, die weite Berliner Winternacht im Tiergarten …

      Berger keuchte und suchte Halt an einem Mauervorsprung. Er fühlte etwas Hartes zwischen den Fingern und gewahrte eine Perlenkette in seiner Hand. Ungläubig schloss er die Augen. „Das kann doch nicht …“

      Stunden schienen vergangen zu sein, als ein heftiges Zupfen ihn in die Realität auf der Straße zurückbrachte. Inzwischen war es vollkommen dunkel. Ein kleiner Junge mit triefender Rotznase stand vor ihm und zerrte unermüdlich an Bergers Mantel.

      „He du, alles in Ordnung?“ Die klaren blauen Augen sahen ihn mit einer Mischung aus Neugier, Besorgnis und Angst an.

      Berger brauchte einen Augenblick, um ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Er blickte auf seine Hand. Die Perlenkette war fort. Er schüttelte den Jungen ab und wandte sich um. „Alles in Ordnung.“

      Auf dem Weg zurück ins Präsidium schienen die Straßen immer länger zu werden. Und am Ende jeder Straße wartete wieder nur eine neue Straße. Berger stolperte von Kreuzung zu Kreuzung, während das Schneegestöber dichter wurde. Passanten starrten ihn an. Starke Übelkeit stieg in Berger auf und er rang nach Luft. Auf unerklärlichem Weg erreichte er das Brandenburger Tor, das wie ein drohender Wächter die Straße überschattete. Taumelnd blieb der Kommissar stehen. Die Welt drehte sich. Jemand riss ihm den Hut vom Kopf. Berger blickte auf. Es war die Kartenverkäuferin. Sie und die Tänzerinnen aus dem ‚Wintergarten-Varieté‘ umkreisten ihn. Theodor Bergers Herz raste. Die Augen der umstehenden Frauen wurden riesengroß, Blicke durchbohrten ihn. Eine der Tänzerinnen hob den Arm und deutete mit dem Zeigefinder auf ihn. Berger erkannte entsetzt die Tote aus dem Tiergarten. Ihr Blick war leer und kalt.

      Berger wirbelte herum und ergriff die Flucht. In seinem Kopf hallten Stimmen, Musik und Schreie wild durcheinander. Wie aus dem Nichts baute sich Obmüller im weißen Kittel vor ihm auf und packte ihn am Mantel. „Wir werden deinen Kopf aufbohren müssen“, sagte er finster, warf dann den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.

      Theodor Berger versuchte verzweifelt sich loszureißen, er strampelte, sein Herz raste, doch vergeblich, er fiel und fiel.

      „Theo? Theo! Wach auf!“

      Mit einem heftigen Ruck schreckte Berger aus dem Schlaf auf. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Das Laken seines Bettes war schweißnass. Vor dem Fenster hatte sich die Dämmerung über die Stadt gesenkt und noch immer fielen unentwegt dicke, weiße Flocken aus dem Himmel über Berlin. Berger fasste sich an die Stirn, nur langsam kam Klarheit in seine Gedanken. Es war Weihnachten. Und er, Berger, war zu Hause.

      Im Türrahmen lehnte Marta. Ihre Miene war finster. „Telefon für dich!“

      Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand wieder in der Küche. Der Duft nach Festtagsgans und Bratäpfeln wehte Berger in die Nase. Telefon. Telefon?

      Hastig


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