Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an. Susanne Rüster
Stimme des Polizeiarztes aus dem Lautsprecher. Für einen winzigen Moment war Berger versucht, den Hörer einfach auf die Gabel fallen zu lassen und so zu tun, als hätte es diesen Anruf nie gegeben. Seine Finger krallten sich um das gedrehte Kabel.
„Was gibt’s?“ Bergers Stimme klang so matt und resigniert, dass Obmüller am anderen Ende der Leitung laut auflachte.
„Wir wollten dir eigentlich nur mitteilen, dass Weihnachten ist. Und wir haben in diesem Jahr doch tatsächlich weit und breit keine Leiche. Du kannst also deinen wohlverdienten Urlaub genießen.“ Im Hintergrund erklang das unterdrückte Gekicher der Kollegen, die an diesem Heiligabend in der Wache Dienst hatten. Berger schloss kurz die Augen und atmete durch. Dann schob sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. „Ein Sauhaufen seid ihr, verstanden! Schöne Weihnachten!“
„Ein schönes Fest, Herr Kommissar“, gluckste Obmüller und legte auf.
Sacht ließ auch Berger den Hörer auf die Gabel zurück sinken und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er ließ seinen Blick aus dem Fenster wandern. Die hellen Schneeflocken tanzten im Licht der Gaslaternen und hoben sich deutlich gegen das Blauschwarz des städtischen Himmels ab. In der Küche ertönte heftiges Geschirrklappern und holte Berger aus seinen Gedanken. Er stieß sich von der Wand ab und ging den Flur hinunter zur Küche. Sacht knarrte der Dielenboden unter seinen nackten Füßen. Marta sah auf, als er die Küchentür öffnete. Ihr Blick war eine Mischung aus Skepsis, Vorahnung und unterdrücktem Zorn.
„Und, was wollte dein Kollege? Ist wieder etwas passiert?“
Berger vernahm das leise Zittern in ihrer Stimme und lehnte sich locker gegen den Türrahmen.
„Er wollte nur sagen, das alles in Ordnung ist. Es gab noch keinen Weihnachtsmord in diesem Jahr.“ Einen Moment lang war es vollkommen still. Bergers Blick glitt über Martas neue Frisur, einen kurzen, dunklen Bubikopf. Sie hatte sich schon für die Feier umgezogen. Das elegante Seidenkleid fiel locker um ihre Hüfte und der weite Ausschnitt betonte ihren schmalen, weißen Hals. Ein Blitz zuckte durch Bergers Kopf und er lächelte kalt. Wie in Zeitlupe griff er in seine Hosentasche und zog langsam eine lange Perlenkette hervor. „Frohe Weihnachten, mein Engel …“
2. PREIS
Regine Röder-Ensikat
Gier
„Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit“, von klaren, hellen Knabenstimmen gesungen, locken Uwe Pfeifer an das Wohnzimmerfenster seiner Altbauwohnung. Von hier aus hat er einen wunderbaren Ausblick auf den Gendarmenmarkt. Er liebt die geschichtsträchtige Kulisse, von der schon Goethe schwärmte und in Knüttelversen pries: „Prophete links, Prophete rechts, das Weltkind in der Mitten“. Pfeifer sieht das Schauspielhaus, eingerahmt vom Französischen und vom Deutschen Dom. Er liebt diesen Platz, diese Gegend, auch unter einem kulinarischen Aspekt. Für ihn, den Viel- und Gutesser ein märchenhaftes Umfeld. Im Café Möhring frühstückt er und lässt sich oft nach einem langen Arbeitstag im Restaurant Lutter und Wegener mit Köstlichkeiten der internationalen Küche und deliziösen Weinen verwöhnen.
Alle Jahre wieder wird unter seinem Fenster der schönste Weihnachtsmarkt der Stadt aufgebaut. Düfte von Zimt, Anis, Glühwein und gebrannten Mandeln füllen die Luft und schweben zu ihm hinauf in den dritten Stock seiner Wohnung und locken ihn täglich in das Schlaraffenland. Schwedische Elchsteaks, französische Spezialitäten wie Crêpes, Käse und Trüffel, auch holländische Puffertjes, Nürnberger Lebkuchen und Bratwürste aus deutschen Landen kostet er dann und genießt.
Ganz bewusst hat Uwe Pfeifer sich jetzt, in der Adventszeit, für eine Abmagerungskur entschieden. Zu genau kennt er seine Schwächen. Er muss seiner Völlerei entfliehen, denn er ist dick, sehr dick und felsenfest entschlossen abzunehmen. Ein schwerer Entschluss, wie er aus Erfahrung weiß, denn schon viele Male haben qualvolle Diäten nie das gewünschte Ergebnis gebracht. Sie endeten immer so, dass er, meist ein umgänglich heiterer Junggeselle, in tiefe Depressionen fiel.
Für eine Diät in den eigenen vier Wänden ist die Vorweihnachtszeit so gar nicht geeignet, aber in diesem Jahr will er seine Genußsucht bändigen.
Er hat sich eine Klinik im Berliner Bezirk Zehlendorf ausgesucht. Hier wird nach dem Motto „Schlank macht glücklich“ eine ganzheitliche Behandlung angeboten, eine Erfolg versprechende Lösung seiner Probleme: Heilfasten mit Säften und Kräutertees, Gymnastik und Massagen, ein vielseitiges Programm.
In einer Villa am kleinen Wannsee, umgeben von einem Park mit alten Buchen und Kiefern, die bis zum Wasser reichen, weitab von den vielen Weihnachtsmärkten, hungert er nun seit einer Woche nach der dürftigen Gemüse- und Säftekur von Frau Doktor Elisabeth Schönstett.
Der anstrengende Aufenthalt wird ihm durch Genüsse besonderer Art jedoch verschönert und erleichtert. Vom Fenster seines Zimmers hat er Ausblick in ein Reihenhäuschen, das der Klinik gegenüber liegt, in dem ein junges, hübsches Wesen in einer Küche herumläuft. Der Anblick entzückt ihn, denn trotz Novemberkälte ist die Frau immer leicht bekleidet. Sie ist vollschlank und rotgoldene Haare umspielen ihr Gesicht wie eine Abendhimmelwolke.
Uwe Pfeifer beginnt sich für sie lebhaft zu interessieren.
Er hat sich einen Feldstecher besorgt, um einen besseren Einblick zu haben.
Hungrig sitzt er in der anwendungsfreien Zeit am Fenster seines Zimmers und beobachtet die junge Frau bei ihren häuslichen Verrichtungen. Dabei vertieft er sich auch in die bunten Etikettenaufschriften der Konserven, die ihm verführerisch ins Auge stechen. Nachts träumt er von der Nachbarin. Sie füttert ihn mit deftigem Sauerkraut und Schweinskrustenbraten, und zum Nachtisch steckt sie ihm kleine Kuchen in den Mund. Als er erwacht und zum Frühsport gerufen wird, gerät sein seelisches Gleichgewicht mächtig ins Wanken.
Er richtet das Vergrößerungsglas auf das Haus gegenüber.
Die junge Frau aus seinem Traum sitzt bereits bei einem üppigen Frühstück.
Ein Klopfen an seiner Zimmertür schreckt ihn auf. Eine Schwester meldet den Besuch der Klinikleiterin an. Das verheißt nichts Gutes. Und so ist es dann auch. Frau Doktor Schönstett, eine superschlanke Vierzigerin mit gebirgsbachkalten Augen, die ihn böse anblitzen, tritt ein. „Was ist das?“ Sie weiß natürlich selbst, was sie da auf den Tisch geschleudert hat.
„Keine Ahnung, noch nie gesehen“, antwortet er mit unschuldiger Miene.
Die Ärztin antwortet scharf: „Das ist eine Tafel Schokolade – Vollmilch – Traube – Nuss! Ich habe sie in der Deckelvase im Speisesaal entdeckt“, zischt sie. „Ihnen ist doch bekannt, dass ich Sie ermahnen muss. Der Verzehr von Schokolade ist während der Fastenkur verboten.“
Pfeifer lächelt überlegen. „Diese Vase ist für jedermann frei zugänglich.“
Frau Doktor entgegnet kopfschüttelnd: „Das weiß ich. Dieses Argument benutzen alle, die sich dort ein Nahrungsdepot einrichten.“
Pfeifer ist geschockt, er hat verstanden. „Diese blöde Vase ist eine gemeine Falle. Unschuldige Patienten, die vor Hunger fast umkommen, nicht aus und ein wissen, werden durch sie verführt.“
„Wenn ich Sie daran erinnern darf, sind Sie doch freiwillig hier und können, wenn Sie sich nicht an die Hausordnung halten, die Klinik sofort verlassen, bitte schön.“
Pfeifer knirscht mit den Zähnen. Er hat verloren. Frau Doktor Schönstett mustert ihn noch einige Sekunden und verlässt mit einem resignierten Seufzer das Zimmer.
Vorbei sind nun die Nächte, als er die erbärmlich dünne Brühe-Diät mit Schokolade etwas erträglicher gemacht hatte. Es blieb der quälende Hunger und noch drei Wochen liegen vor ihm. Er braucht jetzt seine ganze Kraft, um nicht wieder in eine depressive Stimmung zu verfallen. Natürlich will er abnehmen, wer will denn schon zwei Zentner wiegen. Aber doch nicht so radikal und unmenschlich.
Alles was ihm nun bleibt, ist die dralle Nachbarin. Pfeifer greift wieder zum Feldstecher und sieht, wie sie an