Nacht über der Prärie. Liselotte Welskopf-Henrich
die Päckchen in den Koffer und machte sich zu Fuß auf den Weg zu der Ranch ihres Vaters. Die Luft war ganz ruhig, die Morgendämmerung zog herauf. Am Himmel leuchtete der Morgenstern, das sah Tashina als ein gutes Zeichen an. Von Übermüdung spürte sie nichts mehr. Sie lief schnell und ausdauernd. Zu Fuß war leichter voranzukommen als mit dem Wagen. Am schnellsten würde Stonehorn mit seinem Pferd sein. Es war ein prächtiges Tier, das hatte Tashina auch in der Nacht erkannt.
Ihr Mann lebte. Eine andere Gewissheit brauchte sie nicht.
Ein schwarzes Korn geht auf
Die beiden kleinen Indianermädchen und ihr Bruder, der erst drei Jahre alt war, standen auf einer Anhöhe und lugten in die Richtung, aus der ihre große Schwester Queenie-Tashina kommen musste … wenn sie endlich kam. Die jüngeren Geschwister hatten schon am Abend vorher viel ungeduldiger gewartet als Vater und Mutter und Großmutter.
Der Vater arbeitete auf dem Dach des Holzhauses, das vom Sturm beschädigt worden war. Die Mutter bereitete alles vor, damit die Laube aus Kiefernzweigen, die als Sonnen-, Wind- und Regenschutz für einen Werkstattplatz des Ranchers zu dienen pflegte, wieder aufgerichtet werden konnte. Einen Blick warf sie auf das zerstörte Gemüsebeet. Schlamm lag darüber. Doch ein Autowrack, zum Ausschlachten bereit, hatte die Sturmnacht überstanden.
Ein braver Brauner weidete das nasse Gras und zuckte und zitterte hin und wieder mit dem Fell. Die Sonne schien schon wieder warm. Der Weg, der aus der Prärie zu dem Haus führte, war noch voller Lachen und Rinnsale. Es würde wohl noch einige Stunden dauern, ehe man wieder mit dem Wagen durchkam. Helles Jubelgeschrei der drei Kinder auf der Anhöhe meldete aber den Eltern, dass Queenie in Sicht sei.
Vater und Mutter blickten erstaunt auf. Das hatten sie nicht erwartet. Die Großmutter kam aus dem kleinen Haus, noch das Leder in der Hand, das sie mit alten Mustern besticken wollte, um es an das Museum in New City zu verkaufen.
Als Queenie ohne Wagen mit nasser zerrissener Kleidung, aber das Köfferchen in der Hand vor den Augen der Eltern auftauchte, war sie sich bewusst, dass ihr Aufzug einige Überraschung auslösen musste. Doch die Eltern und die Großmutter brachen nicht in laute Rufe oder Fragen aus, sondern weiteten die Augen nur ein wenig, gespannt, von Queenie den Hergang überraschender Ereignisse zu erfahren. Die jüngeren Geschwister hingen schon an ihrer Hand, und der kleine Bruder krähte seine Frage nach dem fehlenden Wagen in den im übrigen ohne Zweifel wunderschönen Morgen hinein.
Als die stumme Begrüßung vorüber war, öffnete Queenie das Köfferchen, gab der Mutter das Fleisch – ein Geschenk, über das sich die ganze Familie freute –, zog ein paar trockene Sachen der Mutter an und machte sich über ein Stück nasses Vollkornbrot her.
»Wir müssen gleich nach dem Wagen sehen«, sagte sie dabei zu ihrem Vater, der sich mit im Hause eingefunden hatte. »Der Sturm hat mich weggeweht und den Wagen auf einen Talgrund geworfen.«
»Henry ist beim Wagen geblieben«, bemerkte der Vater, eigentlich nicht als Frage, sondern nur als Erläuterung, denn dies erschien ihm selbstverständlich.
Queenie suchte ihre Verlegenheit zu verbergen. »Henry war wohl krank … ich habe ihn bei Elk in New City gelassen.«
Elk galt als einer der vertrauenswürdigen Männer. Die Eltern hatten zu Queenies Auskunft also nichts weiter zu bemerken, aber in der Mutter stieg eine Sorge auf, das sah Queenie ihr an. Wenn Henry so krank war, dass ihn Queenie nicht einmal im Wagen hatte mitnehmen können, musste es wohl schlimm um ihn stehen.
Der Vater machte sich mit seiner ältesten Tochter auf den Weg. Er nahm einiges Werkzeug mit. Vielleicht konnte er den Wagen an Ort und Stelle wieder fahrbereit machen. Der Fünfzigjährige hatte einen sehr guten Schritt. Queenie strengte sich an, um mitzukommen, ohne den Vater aufzuhalten. Hoch in den Lüften sah sie zwei Geier schweben. Sie war der eine der beiden Menschen, die schon wussten, was diese Vögel anzog und worauf sie lauerten.
Queenie musste kräftig mithelfen, als der Vater den Wagen wieder auf die Räder stellte. Der Wagen hatte am Hang gelegen, schon etwas schräg, dadurch war die Arbeit für die beiden zu schaffen. Der Vater stellte die Motorhaube auf, damit alles schneller abtrocknen konnte, prüfte dies und jenes durch und fragte dabei: »Was ist mit Henry?«
»Er hatte getrunken.«
Der Vater schaute rasch, beinahe entsetzt auf.
Er sagte aber nichts, sondern beschäftigte sich mit dem Kabel der Batterie, das wieder locker geworden war.
»Was habt ihr denn nur mit dem Wagen gemacht!«
Queenie bemerkte dazu nichts.
»Hast du das Schießen heute nacht gehört?«
»Ja.«
Der Vater betrachtete das zersplitterte Fenster.
»Ich habe es durchstoßen, um herauszukriechen«, erklärte Queenie. »Hier im Tal ist das Wasser geströmt wie in einem Fluss.«
»Ah, so.«
»Ich habe etwas verdient, und ein Kleid kann ich mir wieder kaufen. Ich habe viel Geld verdient, das habe ich bei Elk gelassen.«
»Ja. Schon gut.«
Der Vater sah hinauf zum Himmel und beobachtete die Aasvögel.
»Es gibt solche Vögel … und es gibt auch solche Menschen …«, sagte er. Das war alles, was er sagte oder zu fragen hatte. Vater und Tochter warteten zwei Stunden. Es saß sich schön und ruhig in der Sonne und in dem sanften Wind. Als der Wagen gut abgetrocknet war und auch die Wege schon wieder in einen Zustand kamen, der von einem Indianer als fahrbar angesehen wurde, ließ der Vater den Motor an. Die Zündung funktionierte, und die Fahrt nach Hause ging ohne Unterbrechung vonstatten.
Queenie machte sich daheim an die Gartenarbeit. In den Ferien war das Gärtchen immer ihrer persönlichen Obhut anvertraut. Sie holte sich Wasser von dem Pumpbrunnen, den sich der verstorbene Großvater und der Vater in jahrelanger mühseliger Arbeit selbst gebaut hatten. Mit Wasser ließ sich die Erde, die die Gemüsebeete überschlammt hatte, vorsichtig auflösen, noch ehe sie trocknete und hart wurde.
Es war, als ob das Blut in Tashinas Adern schneller strömte und die Sonne in ihren Augen heller glänzte, weil ein Glanz von innen ihr entgegenkam.
Das Unwetter hatte zahlreiche Schäden angerichtet, und in den nächsten Tagen war man allerorts mit Reparaturen beschäftigt. Die laufende Arbeit wurde dadurch überall aufgehalten, auf den Ranches, in den Büros, selbst in der Angelhakenfabrik, deren Dach abgedeckt war. Die Gerichtstermine konnten zum Teil nicht eingehalten werden, und das Krankenhaus war durch die Aufnahme von Unfallopfern des Sturms überbelegt. Viele Leute, die ihre Verwandten besuchten, blieben einige Tage länger, um abzuwarten, bis die Wege wieder leichter befahrbar wurden. Der alte Isaac Booth fand es daher zunächst nicht besorgniserregend, dass sich sein Sohn Harold nicht blicken ließ.
Erst zehn Tage später kam wie durch Zufall das Gespräch darauf. Mutter Booth kaufte frühmorgens im Supermarkt an der Agenturstraße ein, Eier, Mehl … Früchte? Nein, Früchte nicht, denn das Geld war immer knapp, die Ranch sollte noch vergrößert und die Pacht an den Stammesrat immer pünktlich bezahlt werden.
»Wie geht es denn Harold?« erkundigte sich die Kassiererin, in deren Adern einige Tropfen Indianerblut flossen.
Die Mutter, die sich um den tagelang ausbleibenden Sohn viel mehr sorgte als der Vater, witterte irgendeine Bedeutsamkeit in der Frage.
»Warum? Haben Sie Harold kürzlich gesehen? Gut vor einer Woche, meine ich. Er wollte hier für uns einkaufen.«
»Ja, das wollte er wohl.« Jetzt war es an der Kassiererin, einem interessanten Fall auf die Spur zu kommen. »Aber dann hat er doch nicht eingekauft.«
»Dann hat er doch nicht eingekauft.« Die ängstlich gespannten Augen der Mutter erweckten in der Frau an der Kasse die Erwartung auf einen wahren Kriminalroman. Ein Glück, dass sich außer Mutter Booth im Augenblick kein Kunde im Laden befand. Die Kassiererin konnte die Angelegenheit spannend machen. »Ich