Nacht über der Prärie. Liselotte Welskopf-Henrich

Nacht über der Prärie - Liselotte Welskopf-Henrich


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ungefähr.«

      Jetzt trat doch ein Kunde ein, holte sich eine Kleinigkeit, zahlte und ging.

      Die Kassiererin konnte endlich fortfahren. »Dort drüben hat er gestanden, drüben auf der anderen Straßenseite.« Sie lächelte verstohlen.

      »Warum kam er denn nicht herein?« fragte Mutter Booth.

      »Was weiß ich! Ich meine – das kann ich ja nun auch nicht wissen, warum sich der junge Mr Booth anders entschlossen hat.«

      »Haben Sie noch gesehen, dass er wegging?«

      »Ja, das habe ich wohl noch gesehen. Ich habe hier auch viel zu tun und kann nicht einfach aus dem Fenster schauen – entschuldigen Sie. Ich glaube, er fuhr mit einem fremden Wagen weg.«

      Die Tür war wieder aufgegangen. Drei Kunden traten ein. Sie hatten erst lange zu wählen, um viele gute Sachen und wenig Geld irgendwie in Einklang zu bringen.

      »In welche Richtung fuhr er denn?« forschte Mutter Booth aufgeregt.

      »Ich kann keine Eide leisten. Ich glaube, er fuhr zurück, wieder in die Agenturstraße hinein, die er entlanggekommen war.«

      Der Mutter standen die Tränen in den Augen. »Er ist seitdem nicht mehr nach Hause gekommen.«

      »Jesus Christus! Nicht nach Hause gekommen! Es wird doch nicht etwa … So ein guter Sohn … Haben Sie denn schon nachforschen lassen, Mrs Booth?«

      »Nachforschen? Aber Sie werden doch nicht denken, dass ihm etwas passiert ist?«

      »Wo werde ich denn so etwas denken. Doch nicht hier auf heller Straße, mitten in der Agentur.«

      »Es war der Tag – erinnern Sie sich –, das war doch der Tag, an dem der furchtbare Sturm einsetzte …«

      »Aber ganz richtig, ganz genau.«

      »Wenn ihm nun mit dem Wagen irgend etwas … zugestoßen … Also er ist zu den Agenturgebäuden zurückgefahren?«

      »Könnte auch umgekehrt gewesen sein. Sehen Sie, es fiel mir überhaupt nur ein, aus dem Fenster zu schauen, weil …«

      »Weil …?«

      Es trat eine längere Pause ein, da die drei Kunden sehr umständlich zahlten und packten.

      »Weil es mir doch unheimlich vorkam«, konnte die Kassiererin endlich fortfahren. »Man hat manchmal ein Gefühl, ganz ohne Verstand! Weil es mir also unheimlich vorkam … dass …«

      » … dass …? So reden Sie doch!«

      »Ja, dass drüben der junge Mr Booth stand, und hier beim Schaufenster stand Joe – Joe King.«

      »Joe King?!«

      »Ja. Und Queenie kam ausgerechnet dazwischen.«

      Die Mutter schaute die Kassiererin einige Sekunden entgeistert an. Dann vergaß sie fast zu zahlen, legte schließlich ein zu großes Geldstück hin, ohne sich herausgeben zu lassen – was ihren Gewohnheiten durchaus widersprach –, und stürzte aus der Tür hinaus, zu dem Wagen hin, in dem ihr Mann, schon sehr ungeduldiger Stimmung, am Steuer saß.

      »Isaac!« Sie hatte sich noch nicht gesetzt, sondern stand, vorgebeugt, an der offenen Autotür und schob die Einkäufe auf dem Hintersitz zurecht. »Isaac … Harold ist ermordet. Joe King hat das getan. Wir müssen sofort Anzeige erstatten.«

      Mr. Booth senior war durch das Gehabe seiner Frau etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Mammy war ein Halbblut, eine fleißige Ranchersfrau, kümmerte sich stets um die Kleintierzucht, die von vielen Indianerinnen verachtet wurde, und passte sich daheim der schweigsamen Atmosphäre der Ranch an. Vielleicht war Harold der einzige, dem ihre natürliche Redseligkeit nicht lästig war, weil er selbst gern plauderte, und vielleicht rührte auch daher die besondere Liebe der Mutter für diesen ihren jüngsten Sohn. Aber die Unterhaltung mit Harold reichte nicht aus.

      Wenn Mammy in die »City« der Reservation, in die Agenturstraße, kam und besonders wenn sie einkaufte, öffneten sich die Schleusen ihres Redebedürfnisses, und was sie erzählte, wurde Mr Booth senior stets zuviel.

      Er pflegte deshalb auch schon seit Jahren nicht mehr mit ihr zum Einkauf zu fahren. Aber heute hatte Harold gefehlt – worüber Isaac Booth mehr ärgerlich als besorgt war –, und die letzte unverheiratete Tochter musste sich um eine kranke Kuh kümmern. Es war ein im ganzen durchaus schwarzer Tag für Booth senior, und dementsprechend reagierte er jetzt. Er gab seiner Frau überhaupt keine Antwort, winkte mit einer barsch wirkenden Bewegung des ganzen Arms, dass sie sich mit dem Einsteigen beeilen möchte, und fuhr schnurstracks mit ihr zum Stammesgericht, in dem um diese Tageszeit irgend jemand anwesend zu sein hatte.

      Als er eintrat – seine kleine Frau wirkte hinter ihm wie versteckt –, begegnete er zunächst Runzelmann, der eben durch den schmalen Korridor lief.

      »Richter Ed Crazy Eagle?« fragte Booth kurz und fordernd.

      »Nicht da. Nur der Präsident.«

      »Muss ihn sprechen.«

      »Es findet eine Verhandlung statt. Sie müssen leider warten.« Runzelmann begriff, dass der Pächter der großen Ranch, Isaac Booth, sein Ansehen in jeder Weise gewahrt wissen wollte. Er führte ihn daher in das zur Zeit leere Arbeitszimmer von Ed Crazy Eagle und bot ihm und seiner Frau die vorhandenen drei Stühle zur Auswahl an.

      Isaac Booth setzte sich.

      »Der Präsident wird nicht gern gestört, und die Verhandlung ist wichtig und schwierig«, erklärte Runzelmann. »Wenn ich einzutreten und zu stören und zu fragen wage, ist es besser, ich weiß irgendein Stichwort. Wollen Sie mir einen Hinweis geben?«

      Isaac Booth kämpfte mit sich. Er gab nicht gern bloßes Geschwätz weiter, aber es ging um seinen Sohn, und er wünschte auch diesen Gerichtsbeamten zu zeigen, dass Booth senior nur kam, wenn er ein Anliegen hatte, das in das amtliche Getue wie ein Blitz einzuschlagen geeignet war.

      »Joe King hat meinen Sohn ermordet.«

      Die Wirkung war da.

      Runzelmann blieb eine Sekunde fassungslos, zog dann jene Runzeln zusammen, die er nur bei besonderen Anlässen, vielleicht alle fünf Jahre einmal, krauste, und entfernte sich ohne ein weiteres Wort langsam, im Tempo und Rhythmus eines Leichenträgers. Nicht anders war ihm innerlich zumute.

      So hatte es also kommen müssen.

      Er zögerte noch einen Augenblick vor der Tür des Präsidentenzimmers, verstand die Worte, die herausdrangen, vor Aufregung nicht, obgleich sie hörbar waren, und klinkte dann auf. Erst zu klopfen, schien ihm der gegebenen Situation nicht angemessen. Der indianische Gerichtspräsident war mitten im Sprechen, sah den Eintretenden mit dem Blick an, der warten hieß, und fuhr dann fort.

      Seinem Tisch gegenüber standen die beiden Polizisten, der lange und der kleine, in ihrer Mitte Joe King. Er hatte die schwarzen Jeans und das weiße Hemd an. Seine Hände steckten, auf den Rücken genommen, in Handschellen.

      Runzelmann blieb in der Nähe der Tür stehen, die er hinter sich wieder geschlossen hatte.

      »Es sind Schüsse gehört und es sind Leichen gefunden worden«, sagte der alte Richter. »Wo warst du in der Sturmnacht, Joe King?«

      »Ich verweigere die Aussage.«

      Es schien Runzelmann schon viel, dass Stonehorn diese vier Worte aussprach. Runzelmann hatte nichts als Schweigen erwartet, so, wie er Stonehorn beurteilte und sein Verhalten schon mehr als einmal erlebt hatte.

      Der alte Richter war erbittert. »Du willst uns die Sache schwer machen. Das hat dir schon manchmal genützt, aber es wird dir nicht immer nützen. Du bist hier bei der Agentur gesehen worden, am Abend, dafür gibt es Zeugen genug. Dann bist du verschwunden. Wenn du nicht nachweisen kannst, wo du warst, wird es nicht schwerfallen, den Indizienbeweis zusammenzustellen. Du hast schon zweimal unter Mordverdacht gestanden und bist nur aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Du hast dich jetzt widersetzt, als du vor Gericht erscheinen solltest.


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