3 a.m.. Edie Calie

3 a.m. - Edie Calie


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warum denn nicht? Der Zusammenhang ist doch vollkommen klar!«

      Er stöhnte entnervt auf. Ich weiß, dass er mich liebte, aber zurzeit war ich einfach zu viel – selbst für ihn. »Hauptsache du schreibst, dann bist du noch nicht ganz verloren,« sagte er, bevor er den Raum verließ. Er kannte mich zu gut. Kindisch streckte ich ihm die Zunge heraus, was er ohnehin längst nicht mehr –.

      »Scheiße, was ist das? Dieses dickflüssige rote Zeug an der –«

      »Nak nak nag naag nack.« Nur ein Verrückter verlangt danach eingewiesen zu werden – das Schnattern der Ente interessierte niemanden.

      »Nak naag!« – 23!

      Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Nichts war alles.

      »1984 war nicht als Gebrauchsanweisung gedacht«, prangte mittlerweile auf allem und jedem in dieser Stadt. Doch zu spät. Schon längst interessierte es niemanden mehr, als was das Buch ursprünglich mal gedacht war, es wurde so gebraucht und fertig. Johnny zog sich seinen dunkelblauen Pullunder über sein kariertes Hemd, was ihn noch vor 23 Jahren wie einen Opa hätte aussehen lassen, doch jetzt ein unmissverständliches Zeichen dafür war, dass er zu den ‚coolen‘ Hipstern gehörte, über die sich alle anderen genauso lustig machten, wie die Hipster selbst, wenn sie ihre Zugehörigkeit abstritten. Wie auch immer, es scheint klar zu sein, welche Art Mensch Johnny war. Er nahm sein Tofubrot und steckte es zu seinem GurkenLaptop in die Tasche. Anschließend stöpselte er sich seinen GurkenPod in die Ohren und irgendeine unbekannte Britpop-Band begann in seine Ohren zu plärren. Insgeheim bevorzugte er die Musik von Rihanna, aber das hätte er natürlich niemals zugegeben. Dabei hätte er eigentlich wissen müssen, dass man auch mit Britpop keine Revolution gewinnen kann, obwohl ihm die doch angeblich so wichtig war. Wer auch immer sie ausgerufen hatte, jetzt wo sie unaufhaltsam schien, wollte jeder davon profitieren.

      Dabei waren die Fronten so undurchsichtig und widersprüchlich, dass kaum noch jemand den Überblick hatte. Manche schrien nach mehr Freiheit, manche schrien nach mehr Geld und Macht, manche schrien nach mehr Überwachung und Sicherheit und manche schrien schlicht und einfach nach Mehr. Schließlich waren sie von klein auf alle darauf konditioniert mehr zu wollen und niemand wäre auf die Idee gekommen, weniger zu verlangen. Weniger machte Angst, es musste mehr werden, nur Wachstum würde etwas bringen, alles andere den Untergang.

      Mittlerweile war der Typ, der sich als Jesus bezeichnete, so was wie ein Internet-Star geworden. Es existierten bereits unzählige Videos von ihm und immer mehr Menschen sämtlicher Glaubensrichtungen hefteten sich an seine Fersen und filmten jeden Schritt von ihm mit ihren GurkenPhones. Ihm selbst schien der Rummel um seine Person langsam etwas zu viel zu werden, aber dennoch stand er ihnen jeden Tag Rede und Antwort, wenn auch ziemlich launisch. Aber launisch war genau das, was die Fangemeinde wollte: Ein liebe- und verständnisvoller Jesus hätte ohnehin nicht in diese Zeit gepasst.

      »Jesus, kannst du uns sagen, ob die Welt irgendwann untergehen wird?«, fragte einer der Fans.

      »Die Frage ist nicht ob, sondern wann und selbst das ist relativ«, antwortete er, »Aber mir ist schon klar, dass ihr minderbemittelten Menschen noch immer nicht die lineare Zeitrechnung aufgegeben habt. Ihr zieht nicht mal in Betracht, dass der Weltuntergang möglicherweise bereits stattgefunden hat. Wenn ihr irgendwann entdeckt, dass auch die Zeit dreidimensional ist, werdet ihr euch alle in die Hosen scheißen.«

      Keiner der Anwesenden war sich sicher, was sie mit dieser ‚Antwort‘ anfangen sollten, ein einfaches ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ wäre allen lieber gewesen. Aber was erwarten die Leute, wenn sie Jesus um Rat fragen? Die Frage nach dem Weltuntergang wurde ihm schließlich nicht zum ersten Mal gestellt. Online gab es ein Video, in dem sich Jesus so anhörte, als ob er jederzeit die Apokalypse mit vier Reitern im Schlepptau – oder umgekehrt – erwarten würde.

      »Sohn Gottes, bitte sage mir –«

      »Götter«, unterbrach Jesus sie.

      »Bitte?«

      »Es heißt ‚Sohn der Götter‘!«

      »Aber Herr, es gibt doch nur einen wahren Gott.«

      »Wer behauptet denn sowas?«

      »Die Bibel«, schrie jemand aus der Menge.

      »Wurde schlecht übersetzt, dieses Buch! Eigentlich ist es auch egal, ob es ‚Sohn Gottes‘ oder ‚Sohn der Götter‘ heißt. Es ist sowieso nur eurer jämmerlichen Sprache zu verdanken, dass es überhaupt einen Unterschied gibt. Hättet ihr Menschen den verdammten Turm damals nicht zu hoch gebaut, hätten wir dieses Problem jetzt nicht.«

      Ein Raunen ging durch die Menge – Blasphemie!

      »Was wolltest du fragen?«, richtete er das Wort wieder an jene Frau, die er zuvor unterbrochen hatte und die ihn nun eingeschüchtert ansah.

      »Ich wollte fragen, welchen Teil in der Bibel –«

      »Vergesst die Bibel«, unterbrach er sie erneut und setzte noch eins obendrauf. »Eure so genannten Heiligen Schriften sind maximal dazu geeignet, einen Kamin anzuheizen und zwar von jeder Religion. Die Idee von einer grundlegenden Schrift war ja im Prinzip nicht schlecht, aber dann wurden es mehrere und die waren voll mit Missverständnissen und Fehlern. Man hätte von Anfang an nur mathematische Formeln in Steintafeln hauen sollen, dann würdet ihr mich jetzt nicht anschauen wie ein Auto und die Menschheit hätte sich in der Zwischenzeit vielleicht etwas weiterentwickelt.«

      »Soll das ernsthaft heißen, dass du der Selbe bist, der vor über 2000 Jahren gekreuzigt wurde?«, meldete sich ein anderer.

      »Ja. Und nein.« Er seufzte, das war mühsamer, als er gedacht hatte. »Für mich findet all das gleichzeitig statt und es gibt keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Unterschied ist nur für euch da, aber wie gesagt, dreidimensionale Zeitrechnung würde eure Köpfe wahrscheinlich zum Platzen bringen. In eurer linearen Denkweise kann man sagen, dass ich immer mal wieder aufgetaucht bin, in der einen oder anderen Gestalt. Von jedem Mal habe ich das Wissen, oder – wie ihr es nennen würdet – die Erinnerung, was jedoch nicht heißt, dass es immer ich war.«

      Den Gedankengang konnte nun wirklich kein Anwesender nachvollziehen.

      »Aber was erzähl’ ich euch das, die ihr noch immer glaubt, der Golem sei eine Sagenfigur, anstatt zu verstehen, dass Wahrheit in euren Lügen steckt und umgekehrt.«

      Dieses unscheinbare Symbol tauchte nach und nach in der ganzen Stadt auf: als Graffiti auf Hauswänden und S-Bahnzügen der ÖBB, als Aufkleber auf Klowänden, vorzugsweise in Lokalen am Gürtel, auf Flyern und Postern von Partys, auf Mülleimern, in der U-Bahn – außer in der U5 –, selbst als Annonce in Zeitungen. Es verbreitete sich schleichend, tauchte mal hier auf, mal dort. Niemand schien es bewusst wahrzunehmen, keiner fragte, was es damit auf sich hatte und welche Bedeutung dahinter steckte.

      Mit dem Symbol breitete sich ebenso allmählich eine andere Stimmung über Wien aus, diese sollte nicht lange unbemerkt bleiben, der Auslöser dafür jedoch schon.

      Der Wasserrohrbruch riss mich wieder in die Realität zurück. Aber der Reihe nach:

      Vom Film ‚23‘ lief gerade der Abspann und ich war in einer Mischung aus Paranoia und Kopfschmerzen gefangen – positive Kopfschmerzen. »Scheiße, langsam glaube ich auch, ich werde verrückt.« Der verdammte Wilson war wirklich in meinem Kopf.

      »Nur ein Verrückter verlangt danach – Nak nak nag.« »Halt die Klappe, Ente!«

      Plötzlich ertönte die Türklingel. Eine Begebenheit, die selten vorkam und deswegen jedes Mal einen Schauer durch meinen gesamten Körper jagte. Dieses durchdringende Geräusch, das mir jedes Mal körperlich schmerzend bewusst machte, dass andere Menschen in meinen persönlichen Lebensbereich eindringen können und das mit nur einem Knopfdruck.

      Da, schon wieder! Nochmal, nochmal, nochmal... hartnäckig. »Verdammt, ich öffne die Tür nicht, so ein Klingeln kann


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