3 a.m.. Edie Calie
Sinn und sie, im Grunde genommen, keine Wahl hatte. In dem Moment, als ihre Füße das Wasser berührten, fuhr ein Energiestrom wie ein elektrischer Schlag durch sie hindurch, schoss von den Füßen ausgehend durch ihren ganzen Körper nach oben und weiter darüber hinaus, bis in die Wolken.
Ihr Körper zuckte, während vor ihrem geistigen Auge Bilder in rasender Geschwindigkeit abliefen. Bilder aus ihrem Leben, aus dem Leben davor und davor und davor und davor, bis zu jenem Punkt zurück, der für die menschliche Psyche normalerweise unzugänglich ist. Und sie verstand.
Sie verstand den Grund ihrer Existenz, die Bedeutung ihres Namens, das große Ganze, den Sinn, 42. Keinerlei Emotionen waren mehr in ihr, sie stand über dem Menschlichen.
»Es ist an der Zeit. My time is now!« Sie fing an zu laufen, geradewegs in die Weiten des Meeres hinein.
Räusper. Der prachtvolle Tisch, um den die Herren versammelt waren, wirkte etwas unangebracht, Bierbänke hätten besser zu dem Spektakel gepasst. Die höchsten Vertreter dieser längst überflüssigen Religion wirkten wie Karikaturen ihrer selbst, die sich zur Faschingsfeier versammelt hatten. All that singing and dancing.
»Was machen wir wegen dem verdammten Neger?«
Ach ja, der Typ der sich für Jesus hielt und es mittlerweile zu beträchtlicher Berühmtheit gebracht hatte, war der Grund für diese Zusammenkunft. Schwerfällig hob der Papst seinen Kopf, um ihn sogleich wieder auf den gefalteten Händen, die vor ihm auf dem Tisch ruhten, abzulegen. Die Tatsache, dass er bei solchen Sitzungen nach wie vor anwesend sein musste, machte sein Leben zur Tortur. Wie schön wäre es gewesen, wie alle anderen alten Männer irgendwo in einem tristen Zimmer zu sitzen und mit der Krankenschwester zu flirten. Sie dürfte sogar Papa zu ihm sagen, wie sich das bei einer Audienz gehört.
»Neger!« wiederholte der Sprecher provokant das politisch unkorrekte Wort, um die Konzentration auf das Thema zu lenken und so schnell wie möglich eine Lösung zu finden. »Also?«
»Das ist komplett lächerlich, wir wissen doch alle, dass wir diesen Kerl unmöglich als Jesus anerkennen können.« Hätte es sich bei dem Antwortenden um einen aufrichtigen Christen gehandelt, hätte er noch ein ‚Und wir uns nur zum Wein trinken versammelt haben‘ hinzugefügt, aber um Aufrichtigkeit ging es schon seit Jahrhunderten nicht mehr.
»Ich schlage vor, wir stimmen ab. Ich hab’ wirklich keine Lust auf so ein elendig langes Hickhack wie 2007, als wir die Vorhölle abgeschafft haben,« meldete sich ein Dritter.
Uhhh, damit traf er den wunden Punkt der Versammelten. Obwohl das Gefecht damals an anderer Stelle ausgetragen worden war und keiner der Anwesenden die, extra angefertigte, Streitschrift mit den Pro und Contras gelesen hatte, bevor sie per anonymen Handzeichen abgestimmt hatten, hatten sie alle den Aufwand, der damals betrieben wurde, als furchtbar anstrengend und kostspielig in Erinnerung. Limbo Baby. They just wanted to get it over with. Nach acht Flaschen Rotwein und fünf leeren Schachteln Oblaten (davon zwei mit Vanille und drei mit Schokogeschmack) endete die Abstimmung einstimmig gegen Jesus. »Sonst behauptet irgendwann noch eine Asiatin, Maria, die Mutter Gottes zu sein.« Einvernehmliches Gelächter. Das konnte nun wirklich niemand gebrauchen.
Am nächsten Morgen herrschte Katerstimmung im Vatikan, scheinbar war die Party, äh, Versammlung doch wieder etwas ausgeartet. Während viele die Morgenmesse ausfielen ließen, um sich auszuschlafen, entdeckten andere bereits den Schaden, den sie in der Nacht noch angerichtet hatten. Offensichtlich hatten sie zu irgendeinem Zeitpunkt beschlossen, den Typen, der sich für Jesus hielt, am Kreuz baumeln zu lassen.
Im Prinzip war der Gedankengang gar nicht so unlogisch, schließlich war die Kreuzigung einer der Grundsteine ihrer Religion und in Anbetracht der Sündenanhäufung der letzten Jahrhunderte konnte eine zweite Kreuzigung sicher nicht schaden. Die Tatsache, dass sich niemand mehr an den Beschluss erinnern konnte, machte die Sache allerdings etwas ominös.
Aber es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen, ihr Urteil war bereits mitsamt den Unterschriften als offizielles Statement der katholischen Kirche herausgegeben worden, Schadensbegrenzung war angesagt.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen wurde das weitere Vorgehen besprochen.
»Können wir nicht behaupten, dass wir das mit der Kreuzigung metaphorisch gemeint haben?«, schlug einer vor.
»Warum? Ich finde die Idee, ihn zu kreuzigen, gar nicht so schlecht.«
»Ich auch nicht.« Zahlreiche Zustimmung.
»Aber ich habe im Radio gehört, dass sie momentan gar nicht wissen, wo er sich aufhält und, dass er abgehauen ist.« Das stellte natürlich ein Problem dar, keine Kreuzigung ohne Jesus.
Schließlich machte einer den Vorschlag, seine Kontakte zum CIA zu reaktivieren, der eine Special Agent würde ihm ohnehin ‚noch einen Gefallen schulden‘. Sollten die sich doch mit der Suche beschäftigten. Ohnehin könnte man dem CIA und der Gesellschaft sicherlich einreden, es würde sich bei dem Typen um einen mutmaßlichen Terroristen mit weit verzweigten Kontakten in dubiose Kreise handeln, der eine große Gefahr darstellte.
Keine Gefahr stellt die Leiche einer jungen Frau dar, die in South Shield an den Strand gespült wurde. Mr. Witter dachte erst, dass sein Golden Retriever Elvis an einem besonders dicken Ast nagte, bis er die Distanz durch den Nebel zurückgelegt hatte und sich der Ast als Frauenbein herausstellte. Kein schöner Anblick. Der Tod entstellt jeden, vor allem in Kombination mit Säure und Wasser. Nicht nur Elvis war wegen dem Fund irritiert – wie soll ein Hund auch verstehen, dass man an einem Ast knabbern darf, an einem Bein aber nicht – sondern auch die örtliche Polizei. Im näheren Umkreis war keine Person, auf die die Beschreibung passte, als abgängig gemeldet worden und man wollte den Menschen nicht das Frühstück versauen, indem man ein Foto der aufgeschwemmten Leiche in der Zeitung abbildet, um Hinweise zu erhalten.
So verschwand der Fall bald, mit einer Nummer versehen, in einem Aktenstapel und die Polizei konnte sich wieder den wirklich wichtigen Dingen widmen: Achtungs- und Verbotsschilder aufstellen, von denen offensichtlich dringend neue gebraucht wurden. Der Anlass war auch mehr als passend: ‚Beware! You could drown in the sea.‘ Alle 23 m ein Schild mit dieser Aufschrift am Strand positioniert, würde zukünftige Gefahrensituationen verhindern.
Die Überlegung, ebenfalls Schilder mit der Aufschrift: ‚Attention, your dog is not allowed to eat corpses‘ aufzustellen, war noch nicht abgeschlossen.
Just in case...
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