3 a.m.. Edie Calie
40-Jährige Sepp schöne Augen gemacht hatte, nicht mehr so rangenommen. Doch sie hatte keine Lust sich den Kopf zu zerbrechen oder sich zu fragen, was in seinem Kopf wohl vor sich gehen musste, damit seine Augen so lustvoll entflammt leuchteten. Sie wollte jede Sekunde genießen, denn erfahrungsgemäß blieb ihr nicht viel Zeit, um auf ihre Kosten zu kommen.
In Sepps Gedanken wurde Katz und Maus gespielt. Ein Wort, dessen Bedeutung ihm unbekannt war, leuchtete immer wieder auf, genauso wie das Bild der verführerischen Rothaarigen von vor zwei Jahren. »Babalon«, hätte er am liebsten herausgebrüllt, doch sein psychischer Zensor funktionierte noch zu gut, lediglich ein ‚Baby‘ blieb übrig. Immer wieder stieß er sich und Elfriede in Ekstase, unwissend, dass genau das Gleiche gerade weltweit in unzähligen Schlafzimmern ablief.
Das Universum
Es war 3 Uhr morgens, als im Schutz der Dunkelheit jemand versuchte, unbemerkt das Haus zu verlassen. »He, das ist doch Jesus!«, schrie einer der Anhänger, die mittlerweile Tag und Nacht vor seiner Unterkunft campierten. Innerhalb weniger Sekunden waren alle auf den Beinen. Erwischt!
Jesus war das Ganze gar nicht recht. Er wollte weg und das möglichst schnell. Er hatte sie nicht darum gebeten so viel Aufheben um seine Person zu veranstalten. Er wollte nicht in Talk Shows gehen, hatte keine Lust mit Journalisten zu reden, oder einfachen Bürgern immer wieder dieselben dämlichen Fragen zu beantworten. Sie verstanden ohnehin nicht, wovon er redete, auch wenn sie ihn mit noch so großen Augen anstarrten.
»Jesus, wo willst du denn hin?«
Dieser ging einfach los, man könnte auch sagen, er flüchtete. Doch so einfach ließ man ihn nicht entkommen, die Anwesenden rafften schnell ihre Sachen zusammen und folgten ihrem Messias.
Sie gingen, die Sonne ging auf. Sie gingen, die Mittagssonne brannte auf sie herunter. Sie gingen, langsam senkte sich die Sonne wieder. Sie gingen, es war Nacht und begann kalt zu werden. Vereinzelt hatten die Leute bereits aufgegeben ihm zu folgen, ohne Rast stundenlang durch die Wüste zu laufen ist nichts für schwache Beine und Nerven. Als Jesus endlich stehen blieb und sein Gefolge anblickte, bestand dieses noch aus 12 Christen, 5 Juden, 3 Moslems – die sich jedoch gedanklich und gegenseitig einredeten, es würde sich um den wiedergekehrten Propheten Mohammed handeln – 1 buddhistischer Mönch, der nur zufällig vorbeigekommen war, als sich der Tross in Bewegung setzte und einen Faible für meditatives Gehen hatte – und 2 Prostituierte, deren Religion sich auf den Glauben ans Geld beschränkte und die sich unter den Männern dauerhafte ‚Geschäftspartner‘ erhofften.
Ohne ein Wort zu sagen, ging Jesus in die Höhle, vor der sie zum Stehen gekommen waren. Man hatte das Gefühl, dass er das Sprechen mittlerweile aus Trotz eingestellt hatte, Perlen vor die Säue und so. Es war sicher interessanter, Uyulàla zu lauschen als den Menschen.
Während sich die einen mit dem Schweigen Jesus’ herumschlugen, versuchten Leute wie Johnny gleich die Probleme der gesamten Menschheit zu lösen. Dieser stand auf einer kleinen Bühne und leitete von einem Rednerpult aus die hitzige Diskussion.
»Was soll das heißen, die letzte Demo war nicht erfolgreich?«
»Mann, Johnny, die Presse wusste nicht mal, ob wir für oder gegen die Revolution sind«, schrie jemand aus der Menge.
»Die Presse. Die haben doch sowieso keine Ahnung. Es waren tausende Menschen da, das ist es, was zählt, nicht was irgendwelche Idioten in der Zeitung schreiben. Wir dürfen jetzt nur nicht aufgeben!«
Die Stimmung im Raum ließ jedoch die notwendige Euphorie vermissen.
»Vielleicht sollten wir uns langsam mal einen anderen Werbeslogan einfallen lassen«, versuchte Johnny die Diskussion wieder etwas ins Rollen zu bringen.
»Was hast du gegen Orwell?«, fragte eine blasse Schwarzhaarige.
»Ich hab’ nichts gegen Orwell! Aber überlegt doch mal, vielleicht sind Orwell, Huxley, Philip K. Dick und die ganzen anderen Verrückten schuld an der ganzen Misere.«
»Woran sollen die denn schuld sein? Die waren sich mit ihren Zukunftsprognosen doch nicht mal einig«, konterte sie.
»Nicht einig? Sie gehen alle von einer totalitären Kontrolle und Steuerung aus, in welchem Punkt sind sie sich bitte uneinig? In Wirklichkeit sind die Kausalzusammenhänge verdreht. Es ist nicht so geworden wie Orwell et al es geschrieben haben, sondern weil Orwell et al es geschrieben haben. Oder was glaubt ihr, warum wir seit den 90ern eine Fernsehsendung namens Big Brother haben? Wir werden schon seit Jahrzehnten darauf konditioniert, dass wir komplett überwacht und kontrolliert werden. Und anstatt was dagegen zu tun, fordern wir das auch noch, zu unserer eigenen Sicherheit.« Johnny war ganz in seinem Element. Etliche Male hatte er Diskussionen wie diese schon geführt und noch immer halfen sie ihm, sich überlegen und gut zu fühlen.
»Aber wir machen ja was dagegen!« Sie wusste, dass Johnny Widerspruch hasste, aber wofür war eine Diskussion sonst da? »Die da draußen machen nichts und um die geht es doch! Uns wird so viel Angst gemacht, dass wir uns schon beim Aufwachen in die Hose scheißen und das den ganzen Tag lang, bis wir mit Hilfe von Schlaftabletten abends wieder selig einschlummern können. Mit Angst machen sie uns gefügig!«
»Mit Essen und Konsum machen sie uns gefügig!«, mischte sich ein Dritter ein. »Ist doch offensichtlich. Wir alle müssen essen. Und was passiert, wenn man uns die Möglichkeit nimmt, uns gesund und selbstbestimmt zu ernähren? Wir werden fett, träge und depressiv.«
Dieser Diskussionsverlauf war nichts Neues. Früher oder später landeten sie immer bei der Gutheißung von gesundem, veganen Essen und der Verteufelung von allem anderen. Das Thema kam so sicher wie das Amen in der Kirche, (Nicht-)Essen war ihre Religion.
»Und wer profitiert davon? Die da oben! Im Umkreis von meiner Wohnung befinden sich 13 Burgerläden, 10 Pizzadienste und etliche andere Takeaways, aber kein einziger Bio-Supermarkt.«
»Allerdings«, stimmte sie ihm zu. »Sie machen uns zu Komplexhaufen, damit wir ihnen jeden Scheiß abkaufen, der uns angeblich besser fühlen lässt und wir weder Zeit noch Energie haben, ihr Handeln in Frage zu stellen. Vergesst die prophezeiten Drogen im Trinkwasser, der Scheiß, der im Essen schwimmt, ist viel schlimmer! Gesundes Essen aufzutreiben ist schwieriger, als an neue Brüste zu kommen.«
Johnny mochte die Art, mit der sie ‚Brüste‘ gesagt hatte. »Und was können wir, abgesehen von Demos, dagegen tun?«, fragte er direkt an sie gewandt.
»Chaos! Wir müssen das Chaos zu unserer Waffe machen und die muss so mächtig sein, dass all ihre Überwachungs- und Kontrollmechanismen versagen.«
»Chaos«, kritzelte Johnny auf einen Zettel, eine Idee, die er in Zukunft sicher klauen würde.
Verdammter Orwell, hätte er nicht weiterhin über Tiere schreiben können?
27 Jahre zuvor wären Paul harmlose Tiere auch lieber gewesen, aber er hatte es mit einer wildgewordenen Frau zu tun, die er hilflos zu besänftigen versuchte.
»Jetzt beruhig’ dich erstmal wieder und schlaf ’ nochmal eine Nacht drüber. Morgen können wir über alles in Ruhe bereden, aber mach’ nichts Unüberlegtes.«
»Ich bin ruhig, ruhiger als du! Aber wo zur Hölle hab’ ich die große Reisetasche hingeräumt?« Während sie aufgeschreckt durch die Wohnung lief, redete er weiter gebetsmühlenartig auf sie ein.
»Ich bin nicht gegen deinen Entschluss, aber so was muss doch gut überlegt und geplant werden. Ich will nicht, dass du am Ende wegen einer Kurzschlussreaktion alles bereust.«
»Ich will auch nicht, dass ich etwas bereue, deswegen muss ich auch hier weg. Verstehst du denn nicht? Das hier ist das Ende! Die Welt ist kurz davor unterzugehen, es ist jetzt oder nie.«
»Aber du kannst doch nicht wegen irgendeiner blöden Vorahnung Hals über Kopf abhauen und Matthias und mich zurücklassen!« Er hoffte, das Erwähnen ihres Sohnes würde sie wieder zur Vernunft bringen.
»Glaubst du ernsthaft, ich hab’ Lust den Weltuntergang mit dir und einem schreienden