Bonzentochter. Michaela Martin

Bonzentochter - Michaela Martin


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seit Wochen an einem lästigen Reizhusten. Die kleinen Kinder im Alter von vier und sechs Jahren bekommen schon bei der kleinsten Anstrengung keine Luft. Der Kinderarzt hat eine Art Asthma im Anfangsstadium diagnostiziert, wahrscheinlich verursacht durch Umweltschäden. Die Untersuchungen laufen noch.

      Herr und Frau Völlinger leiden an Hautreizungen, die sie verzweifeln lassen. Bis heute hat kein Arzt ein Mittel gegen den ständigen Juckreiz gefunden. Völlingers haben sich inzwischen an jeder Stelle ihres Körpers blutig gekratzt. Der arme Herr Völlinger sieht mit seiner blutig gekratzten Nase und den geschwollenen Augen inzwischen aus, als hätte er sich mit Max Schmeling einen Boxkampf geliefert. Die ganze Familie tut mir aufrichtig leid. Vor allem, da Völlingers inzwischen pleite sind. Das Schicksal der jungen Familie stand sogar schon in der Presse im Lokalteil der Abendzeitung.

      Damit kam etwas Schwung in die ganze Angelegenheit.

      Einen Tag nach dem Erscheinen des Artikels hat der Vorstand der Firma Bauinvest persönlich bei Kains angerufen. Er wollte wissen, ob man die Sache nicht beschleunigen könnte, schon wegen der schlechten Presse. Kains, dem die Angelegenheit auch schwer im Magen liegt, regte einen außergerichtlichen Vergleich an, was allerdings mit Kosten verbunden gewesen wäre.

      Davon wollte der Vorstand nichts wissen: „Dann sollen sie doch klagen. Wenn sie ihr Geld zum Fenster rauswerfen wollen, dann ist das ihre Sache. Der Prozess kommt die teuer zu stehen, die werden sich noch wundern!“

      Der zaghafte Versuch von Kains, den Vorstand zum Einlenken zu bewegen, indem er auf die imageschädigende Wirkung des Zeitungsartikels hinwies, wischte dieser mit den Worten weg: „Ach was, nichts ist so alt wie Presse von gestern. Es bleibt dabei, wir zahlen nicht, sollen sie doch klagen!“

      Recht haben und Recht bekommen ist offensichtlich zweierlei, so viel kann man bei diesem Prozess lernen. Diese Erkenntnis ist schmerzlich, aber wahr.

      Inzwischen hat die U-Bahn den Tunnel verlassen, ab Studentenstadt Freimann fährt sie wieder oberirdisch. Noch zwei Haltestellen und ich bin zu Hause, Kieferngarten ist meine Hausstation. Es wird also Zeit, dass ich meine trüben Gedanken beiseiteschiebe und mich den wirklich schönen Dingen des Lebens zuwende, dem geruhsamen Wochenende, welches unmittelbar vor der Türe steht. Der Wetterbericht hat fantastisches Wetter vorausgesagt. Während ich meine Tasche und Jacke zusammenpacke, denke ich: Heute kann kommen, was will, mich erschüttert nichts mehr. Schaumbad, ich komme!

      Ich betrachte mein Spiegelbild in der Fensterscheibe der U-Bahn. Als ich mir gestern Abend die Zähne geputzt habe, habe ich mit Schrecken festgestellt, dass sich unzählige kleine Mundfalten über meiner Oberlippe gebildet haben. Außerdem macht sich zwischen meinen Augenbrauen eine tiefe Furche breit, beides verleiht meinem Gesicht einen griesgrämigen, abweisenden Ausdruck. Man wird im Alter nicht schöner, so viel steht fest. Dass der Verfall bei mir schon mit 25 Jahren anfängt, beunruhigt mich sehr. Ich habe Angst, dass ich mit 30 Jahren aussehe wie Mutter Theresa nach ihrem jahrzehntelangen unermüdlichen Einsatz für die Armen in Indien. Um diesem Schicksal zu entgehen, muss ich dem sichtbaren Verfall unverzüglich entgegenwirken, das habe ich gestern Abend noch entschieden. Den Anfang macht heute eine Gesichtspackung, die nach einer zehnminütigen Einwirkzeit eine deutlich sichtbare Glättung der beanspruchten Haut bewirken soll. Ich hoffe, die Packung hält, was die Werbung verspricht.

      Die letzten zwölf Monate sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Ich habe viele Überstunden im Büro gemacht. Ich arbeite gerne, denn erstens macht mir mein Job Spaß und zweitens können wir das Geld nach dem Umzug aus dem Appartement in der Studentenstadt in eine größere Zweizimmerwohnung in Kieferngarten gut gebrauchen. Der Umzug hat Geld gekostet und die Miete ist auch viel teurer. Es ist eine für Münchner Verhältnisse zwar sehr faire Miete, aber trotzdem für zwei Studenten und eine Schülerin, die auf BAföG oder Unterhaltszahlungen vom Vater angewiesen sind, sehr teuer.

      So kurz vor dem Examen fordert die Uni ihren Tribut. Wenn ich nicht Gefahr laufen will, durch das erste Examen zu rauschen, muss ich mein Lernpensum drastisch steigern und samstags zu den Klausurenkursen gehen, was mehr als lästig ist. Immer wenn ich auf dem Weg zur Uni bin und den vielen gutgelaunten Menschen auf der Leopoldstraße begegne, tue ich mir selbst aufrichtig leid. Ich bedauere mich, weil ich die nächsten fünf Stunden in einem muffigen Hörsaal sitzen muss und mein Hirn mit der Lösung eines Falles quäle, der in der Regel nur einen sehr niedrigen Unterhaltungswert hat. Die Lösung muss sauber unter den einschlägigen Gesetzestext subsumiert, soll heißen, begründet werden, und zwar brillant formuliert auf etwa zehn Seiten. Leider hat sich inzwischen herausgestellt, dass meine Handschrift mein größter Feind ist. Zwei Klausuren wurden mit „nicht ausreichend“ bewertet, weil die Prüfer meine Schrift nicht lesen konnten und die Arbeit deshalb erst überhaupt nicht korrigiert haben. In diesen Momenten hasse ich mein Studium. Aber es hilft ja alles nichts, da muss ich die nächsten Monate noch durch. Nach dem Examen wird alles besser. Keine Vorlesungen, keine Klausuren.

      Seit über einem Jahr wohnt Sylvie, meine zehn Jahre jüngere Schwester, bei uns in München. Mein Freund Klaus und ich haben zwei Jahre lang in einem schönen Ehepaar-Appartement in der Studentenstadt Freimann gewohnt, obwohl wir nicht verheiratet sind. Es war ein glatter Glücksfall, dass diese Wohnung gerade frei stand, als Klaus und ich auf der Suche nach einer Bleibe waren. Statt zwei getrennten Appartements bot uns die nette Frau von der Studentenstadtverwaltung diese schöne kleine Zweizimmerwohnung an. Natürlich haben wir sofort zugegriffen und waren sicher, dass wir in der Wohnung bis zum Ende unseres Studiums bleiben würden. Man darf drei Jahre in der Studentenstadt wohnen. Damit möglichst viele Studenten in den Genuss einer günstigen Wohnung kommen, ist die Wohnzeit begrenzt. Ich finde das durchaus gerecht und deshalb richtig. Ich habe das Leben in der Studentenstadt geliebt. Die Wohnung hatte zwei Zimmer, plus kleines Duschbad. Groß genug für zwei Personen, leider zu klein für drei, besonders wenn eine Person erst 14 Jahre alt ist und spätestens ab 22 Uhr schlafen sollte. Die Lage der Studentenstadt ist fantastisch. Direkt am Englischen Garten gelegen, der Aumeister, einer der traditionsreichsten Münchner Biergärten, nur einen Steinwurf entfernt, keine fünf Minuten mit der U-Bahn zur Uni. Wir hatten viel Spaß in der Studentenstadt. Es war immer etwas los. Es gab mehrere Discos und eine nette Bar im obersten Stock des Hanns-Seidel-Hauses, mit einem traumhaften Blick über ganz München.

      Als Sylvie letztes Jahr nach München zog, lebten wir noch rund fünf Monate zu dritt in dem kleinen Appartement in der Studentenstadt. Es wurde uns aber sehr schnell klar, dass das auf Dauer nicht gut gehen konnte. Wenn drei Leute lernen müssen, dann braucht jeder einen Schreibtisch. Dafür war die Wohnung aber viel zu klein, also sind wir auf die Suche nach einer neuen, größeren Wohnung gegangen. Weil die meisten unserer Freunde im Münchner Norden oder Schwabing leben, suchten wir schwerpunktmäßig eine Wohnung in diesen Stadtbezirken. Wir hatten Glück. Eine kleine Annonce im Nordanzeiger klang vielversprechend. Die Zweizimmerwohnung in Freimann in einem Zweifamilienhaus in einer ruhigen Seitenstraße ist fast doppelt so groß wie unsere alte und wie für uns gemacht. Sie hatte nur den Nachteil, dass die Vermieter im Erdgeschoss des Hauses lebten, was für mich nach ständiger Kontrolle roch. Aus taktischen Gründen hatte ich der Vermieterin am Telefon nicht gebeichtet, dass wir ein unverheiratetes Studentenpaar mit kleiner Schwester waren. Konstellationen dieser Art waren in den siebziger Jahren bei Münchner Vermietern nicht sehr gefragt, was ich sogar verstehen kann. Dennoch lief alles ganz anders ab als gedacht.

      Unsere zukünftige Vermieterin, Frau Braun, begrüßte uns so herzlich, als hätte sie ihr Leben lang auf uns gewartet. Eine ungewöhnliche, offene Frau, die meine Vorurteile über die konservativen Münchner schon bei der ersten Begegnung über den Haufen warf. Offensichtlich hatte sie sofort Gefallen an meiner Schwester gefunden. Ein paar Wochen später gestand sie mir, dass sie Sylvie an ihre Tochter Marie erinnert. Nach einer halben Stunde waren wir uns über die Konditionen einig und vier Wochen später zogen wir in unser neues Heim. Seitdem leben wir zu dritt in unserem neuen Zuhause in München Freimann, zwei Haltestellen von der Studentenstadt entfernt.

      Bis heute läuft unser Zusammenleben besser als gedacht, Es ist alles eitle Harmonie, was ich uns nicht zugetraut hätte, wenn ich ehrlich bin. Sylvie hat ihr eigenes Zimmer, in dem sie tun und lassen kann, was sie will. Die Wohnung ist wunderbar hell und die Vermieter sind sehr nett.

      Jetzt hätte ich vor lauter Träumereien fast meine Haltestelle


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