Hexengruft – Abenteuer in Moorland. Ralph Müller-Wagner
hält es einen Filzhut mit Feder. »Es ist mir eine große Ehre, Euch vor die Augen treten zu dürfen, Herr des gelobten alten Palisanderschrankes«, stellt es sich höflich vor. »Mein Name ist Palis. Ich bin ein Baumelf aus dem Lande Ghorgos und betreue da die Palisanderbäume eines Waldes. Seit Jahrhunderten reise ich durch die Zeit, doch dazu später.«
Felix ist so fasziniert von den Worten des Fremden, dass er sich erst einmal auf den Hosenboden setzt und die Eiseskälte vergisst, die immer noch in seinem Zimmer herrscht. Er bringt vor Aufregung kein einziges Wort über die Lippen. Stumm mustert er die bizarre Gestalt, welche in ein grünliches mattes Licht getaucht ist.
»Euch hat es ja offensichtlich die Sprache verschlagen. Ich verstehe das. Es tut mir leid«, entschuldigt sich der Fremde. »Ist auch nicht unbedingt die feine Art, Leute um Mitternacht aus dem wohlverdienten Schlaf zu reißen. Aber ich verfüge nur über diese Möglichkeit, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Eigentlich bin ich gar nicht so klein. Ich kann meine Größe beliebig ändern, doch aus Anstandsgründen passe ich mich immer der Größe meines Gegenübers an«, offenbart der Fremde weiter, während er an der Schnalle seiner ledernen Gürteltasche spielt.
Felix, der nun die Bettdecke über seine Schultern zieht, um sich auf zu wärmen, findet die Stimme wieder, er fasst sich ein Herz und sagt leise: »Ist nicht so schlimm. Ich bin der Felix. Man, hast du mir einen Schreck eingejagt.«
»Ach, lasst mal gut sein. Das wird schon mit uns beiden«, winkt der Fremde ab. »Auch wenn ich bloß ein Gespenst bin. Wir werden bestimmt gut miteinander auskommen, Herr des gelobten alten Schrankes.«
»Das will ich doch hoffen«, antwortet Felix gerade heraus. Er hat überhaupt keine große Lust, es sich mit einem Gespenst zu verscherzen. »Sage doch einfach Felix zu mir. Ich … ich bin doch noch ein Kind und auch nicht der Herr des Schrankes, wie du meinst.«
»Also gut, Felix. Aber dass dieser schöne Schrank in Eurem Gemach steht, ist bestimmt kein Zufall. Er ist aus Palisanderholz gefertigt und birgt besondere Eigenschaften.«
Felix macht jetzt große Augen und ist gespannt.
Der Fremde beginnt gleich zu erzählen: »Sein Holz ist mit Zauberkräften durchtränkt, die zur Geisterstunde belebt werden. Dadurch ist es mir möglich, mit Euch in Verbindung zu treten. Nun wisst Ihr auch, warum wir uns nicht am Tage begegnen können.«
Felix spitzt die Ohren. Unglaublich, was er da hört! Da steht ein uralter Zauberschrank in seinem Zimmer und er weiß gar nichts davon. Wieder läuft es ihm eiskalt über den Rücken. Kritisch mustert er das Gespenst, fragt: »Bist du aus Fleisch und Blut? Du siehst so echt aus.«
»Oh, danke für das Kompliment«, freut sich der Fremde und reibt seine Hände, dass es nur so raschelt. »Leider muss ich Euch enttäuschen. Meine Gestalt ist feinstofflich. Berührt Ihr mich, greift Ihr ins Nichts und spürt nur Eiseskälte. Wollt Ihr es einmal ausprobieren?«, schlägt er dann vor, den erstaunten Jungen dabei angrinsend.
Felix rümpft die Nase. Klar, er will mal. Wer bekommt schon die Gelegenheit, ein Gespenst zu berühren. Doch ist es ihm auch etwas gruselig dabei. Darum zögert Felix und ehe er sich versieht, legt der Fremde ihm seine rechte Hand um die Schulter. Plötzlich wird dem Jungen so richtig frostig, bis in die Zehenspitzen. Schon fängt er mit den Zähnen zu klappern an und bittet den gespenstischen Baumelfen deshalb freundlich, die Hand von seiner Schulter zu nehmen. Die Kälte lässt auch schlagartig nach, aber Felix schlüpft trotzdem unter die warme Bettdecke.
»Nun, habt Ihr mich gespürt?«, will der Fremde wissen.
»Nein, nur Kä…Kä… Kälte«, stammelt Felix, während er von einem Bein auf das andere tritt. »Ich glaube dir, du bist echt cool. Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber mit dem Anfassen, das … das lassen wir mal. Man, ist mir vielleicht kalt.«
»Will ich gerne verstehen. Dann bleibt mal schön unter der kuscheligen Bettdecke. Die bringt Euren Körper wieder auf angenehme Temperaturen. Ihr habt doch, so hoffe ich, keine Angst vor mir?«
»Nein nein, warum denn?«, antwortet Felix, obwohl ihm das Gespenst nicht ganz geheuer ist. Darum fügt der Junge leise hinzu: »Äh, wann gehst du denn wieder?«
»Bin doch gerade erst gekommen, Verehrter. In der Regel dauert mein Besuch eine Stunde. Das wird wohl ausreichen, um eine Geschichte zu erzählen. Meine Geschichte, die sehr traurig ist. Viele Jahre habe ich darauf gewartet, um sie Euch anzuvertrauen. Jetzt ist dieser Zeitpunkt endlich gekommen.« Das geheimnisvolle Wesen aus einer anderen Welt setzt sich nun im Schneidersitz auf den Teppich, mit dem Rücken zum Palisanderschrank.
Felix kratzt sich hinter dem Ohr. Hat er richtig gehört? Das Gespenst wollte es ihm schon viel früher erzählen? Was soll er denn davon halten?
»Ich habe Euch bereits besucht, als Ihr noch nicht einmal laufen konntet«, verrät ihm das grüne Wesen, als ob es seine Gedanken lesen kann.
»Wie das?«, meint Felix verblüfft.
»Weil ich von Anfang an wusste, dass nur Ihr meine Rettung sein könnt. Die Fee des Waldes offenbarte es mir einmal. Der Zauberschrank steht in Eurem Gemach. Er ist der Schlüssel, um die Tür in meine Welt auf zustoßen. Mein junger Freund, Ihr habt nun das richtige Alter, um mit mir in Kontakt zu treten. Außerdem glaubt Ihr wirklich an übernatürliche Kräfte, seid dem Unfassbaren gegenüber aufgeschlossen. Seit ich Euch damals zum ersten Mal sah, habe ich den heutigen Zeitpunkt herbeigesehnt. Ich konnte all diese Jahre keine Ruhe finden. Das ist nun endlich vorbei, der Augenblick meiner Erlösung so nahe.« Die Stimme des Fremden klingt erleichtert. Er mustert den Jungen aufmerksam, wie der wohl reagiert.
Verwirrt schaut Felix das Gespenst an. Und er staunt noch mehr, als die Umrisse der Gestalt plötzlich rötlich zu leuchten beginnen. Felix kann ja nicht wissen, dass es ein Ausdruck von Gespensterfreude ist, welche jetzt in sichtbare Energie umgewandelt wird. Wie herrlich, dass gerade er ausgewählt wurde, ein richtiges Gespenst zu erlösen. »Du machst mich in der Tat ganz neugierig. Dann erzähle mal deine Geschichte«, bittet er darum seinen unheimlichen Besucher.
»Danke für Euer Verständnis. Hört also genau zu!« Bevor der Fremde beginnt, huscht er in Windeseile zur Tür und horcht, ob sie wohl möglich belauscht werden, aber die Luft ist rein. Dann nimmt er wieder seinen Platz ein. Mit trauriger Stimme erzählt er: «Die Hexe Xantl hält meinen physischen Körper seit Jahrhunderten gefangen. Sie ist so bitterböse, dass selbst die Finsternis sich fürchtet, Dämonen ihr aus dem Wege gehen. Ihre eiserne Macht ist allgegenwärtig. Ohne Gnade knechtet sie ihre Untertanen. Als sie und ihre Henkersknechte einst unser Elfenland überfielen, nahm Xantl auch mich gefangen. Wir lebten dort in Frieden und Eintracht miteinander. Die Hexe verschleppte uns später nach Moorland, ihr Reich, irgendwo am Ende des Universums. Eine trostlose und gespenstische Welt, wo bereits unzählige Wesen spurlos verschwunden sind. Keiner fand bisher den Mut, die Hexe zu besiegen. Und wenn es doch irgendwann jemand wagt, wird der Widerstand eiskalt gebrochen. Die Hexe verkörpert das absolut Böse. Sie will die ganze Welt unter ihre dunkle Herrschaft stellen. Das Gute verhöhnt sie, beobachtet es ständig durch ihr magisches Auge.«
»Nun trug es sich zu, dass mich nach einhundert Jahren Haft die Fee des Waldes im Kerker heimlich besuchte. So lange hatte es gedauert, bis sie eine List fand, um dieses Wagnis auf sich zu nehmen. Erst wollte die Fee über meine Träume in Kontakt mit mir treten, aber Xantl bewacht jeden Schlaf, müsst Ihr wissen. Schließlich half ein alter Druide der guten Fee. Er brachte ihr bei, wie man seinen Körper verlässt und sich wie ein Gespenst bewegt. So gelangte sie zu mir und ich sah sie, wie Ihr mich jetzt seht. Da der Geistkörper der Fee mit einem Schutzschild versehen war, konnte ihn die Hexe nicht sehen. Dann lehrte mich die kluge und schöne Fee, wie man seinen Körper verlassen kann. Eine unglaubliche Erfahrung, sage ich Euch. Anfangs hatte ich große Probleme, wieder in meinen Körper zu fahren, doch Übung macht den Meister.«
»Wie Ihr Euch vorstellen könnt, war ich glücklich, wenigstens auf diese Art eine eingeschränkte Freiheit zu erfahren. Bald brachte ich den Mut auf, auch durch den Rat der guten Fee, nach einer Lösung zu suchen, wie man Xantl für immer vernichten kann. Seit dem reise ich durch die Zeit, aber bisher ohne Glück. Einmal erzählte mir die Fee von Euch und dem alten Zauberschrank. Ihr wärt