Hexengruft – Abenteuer in Moorland. Ralph Müller-Wagner
Hexe den Garaus zu machen. Nun kennt Ihr endlich die ganze Geschichte und ich frage Euch voller Hoffnung, ob Ihr mir und den anderen armen Seelen in Moorland helfen wollt?«
»Ich?«, ruft Felix voller Panik. »Aber ich … ich bin ein Kind. Wie soll ich gegen die böse Hexe ankommen? Ich kann nicht einmal zaubern. Och …« Felix ist schockiert. Natürlich tut ihm das Schicksal von Palis leid. Doch was erwartet der Baumelf da von ihm? Schnell verkriecht er sich unter seiner Bettdecke.
»Das ist ja gerade das Salz in der Suppe. Nur ein Kind kann die Hexe besiegen!«, beteuert der Elf. »Ich hatte es befürchtet, dass das alles viel zu gefährlich ist und Ihr mir nicht helfen möchtet. Nun ist alles verloren. Dabei setzte ich doch meine ganzen Hoffnungen in Euch.« Er schluchzt laut, steht auf und läuft aufgeregt im Zimmer hin und her.
‚Der Ärmste’, denkt Felix und atmet tief durch, den Trick hat er von seiner Mutter. Das hilft! Felix hat sich wieder im Griff, er schlägt die Bettdecke zurück und erwidert leidenschaftlich: »Ich will wirklich gern helfen, weiß nur nicht genau, wie ich es anstellen soll! Pass auf! Ich überlege es mir mal bis morgen, ja? Du hast jetzt so viele Jahrhunderte gewartet, da kommt es auf einen Tag auch nicht mehr an. Machen wir es so?«
Erleichtert kniet sich Palis vor Felix auf den Teppichboden und bedankt sich von ganzem Herzen bei dem Jungen für seine Entscheidung.
Aber nun ist Felix Neugier entfacht. »Und du kannst wirklich durch die Zeit reisen? Ich stelle mir das richtig spannend vor.«
»Ist es auch«, antwortet das Gespenst. Dann erzählt es ihm etwas über seine Abenteuer. »Ich weilte einst lange in der Vergangenheit, in Eurer Welt, weil mich die Menschen so faszinieren. Obwohl ihre Lebensspanne nicht all zu groß ist und sie wissen, dass sie sterben müssen, geben sie niemals auf! Und mit ihnen ihre Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Das spricht von Größe! Ja, ich sah Hannibal, als er einst mit seinen Kriegselefanten über die Alpen gegen Rom zog. Ich begleitete heimlich Marco Polo auf einer seiner vielen Reisen, stand mitten im blühenden Troja, bestaunte das sagenhafte Atlantis. Ich weilte in so früher Erdgeschichte, als die heutigen Kontinente noch eine Landmasse waren und sah die Zukunft. Aber darüber werde ich Euch nichts erzählen, weil Ihr diese sonst verändern könnt. Bald werdet Ihr selbst erfahren, wie es ist, durch die Zeit zu reisen. Ihr macht einfach die Augen zu und schon seit Ihr da. Lasst Euch also überraschen!«
Felix ist überwältigt von diesem fantastischen Bericht. Wie gerne würde er selbst einen Blick in die Vorwelt werfen. Die alten Wikinger auf ihren waghalsigen Touren über das Meer beobachten. Oder warum die Neandertaler die Welt wieder verlassen mussten. »Ich kann es kaum erwarten«, erwidert er dann, ganz in seine Träume vertieft. An die böse Hexe Xantl denkt Felix dabei jedoch nicht.
»Ach, du liebes Elfenohr. Die Geisterstunde ist gleich vorbei. Ich muss in den Zauberschrank zurück«, ruft Palis plötzlich und holt Felix damit aus seiner Gedankenwelt zurück. »Denkt gründlich nach, Ihr könnt ein großer Held werden. Also dann einmal bis morgen.« Schon ist der gespenstische Fremde, der Felix gar nicht mehr so fremd ist, im Schrank verschwunden.
»Was passiert eigentlich, wenn du etwas länger bleibst, als die Geisterstunde dauert?«, ruft Felix ihm noch hinterher.
»Oh weh, bloß das nicht. Dann verbrenne ich und somit auch mein physischer Körper. Darum ist Eile geboten.«
»Und wenn es morgen zur Geisterstunde nicht gewittert?«, kommt Felix noch ein wichtiger Gedanke in den Sinn. »Es ist doch bisher jedes Mal so gewesen. Du kamst immer mit dem Gewitter. Hallo, Palis?«
Er antwortet nicht mehr, die Zeit hat ihn wieder verschluckt. Der Zauberschrank erstrahlt nun im Licht von tausend Farben. Dieses Licht knistert und ist so hell, dass Felix für eine Weile die Augen schließen muss. Dann ist der Spuk vorbei, er endet mit einem gewaltigen Donnerschlag. Gleich wird es wärmer im Zimmer, aber stockdunkel.
Felix springt aus dem Bett, will sehen, ob sich das Gewitter verzieht. Schon ist er am Fenster und zu Tode erschrocken. Ein seltsames Wesen klebt von außen an der Scheibe, erklärt somit die absolute Dunkelheit im Zimmer. Es starrt ihn an mit seinen bösen roten Augen, die so groß wie Untertassen sind. Felix ist wie zu Stein erstarrt. So ein Monster hat er noch nie gesehen. Es muss jener Schatten gewesen sein, den er zu Eintritt der Geisterstunde bemerkte. Aber auch das Wesen ist vom Auftauchen des Jungen nicht gerade begeistert. Es löst sich plötzlich von der Scheibe und flüchtet dann mit einem welterschütternden Schrei in die offenen Arme dieser Nacht. Felix glaubt, dass es ein riesiger Vampir ist. Noch sitzt ihm der Schreck in den Gliedern. Das Gewitter ist vorbei gezogen, es endete tatsächlich mit der Geisterstunde. Merkwürdig!
Felix ist so aufgewühlt von seinem Erlebnis, dass er lange wach bleibt. Er befindet sich mitten drin in einer unglaublichen Geschichte. Warum passiert ihm das und nicht den anderen Kindern? Felix muss schon leise schmunzeln, wenn er daran denkt, nun mit einem Gespenst befreundet zu sein. Hätte er niemals im Leben für möglich gehalten! So richtig Angst hat ihm jedoch das Monster mit den großen Augen gemacht. Was mag es wohl für eine Rolle spielen? An Zufall glaubt Felix nicht. Erst in den frühen Morgenstunden schläft er, vollgetankt mit unvergesslichen Impressionen, ein.
5. Kapitel: Felix will es wissen
Felix bleibt bis zum Mittag im Bett. Er hat heute gar keine Lust aufzustehen, so müde fühlt er sich. Langsam kommt er sich schon wie ein Nachtwandler vor. Aber die Schule ist aus, es sind Ferien und da will Felix machen, was ihm am Besten gefällt. Er steht vor seinem größten Abenteuer, um welches ihn alle beneiden würden, wenn sie davon wüssten.
Die Tür geht auf. Mutter steht im Zimmer und fragt: »Willst du nicht aufstehen, mein Herzchen? So ein herrlicher Tag und du liegst im Bett.« Kaum ist sie draußen, summt der Staubsauger im Flur sein aufdringliches Lied.
Felix hält sich die Ohren zu, kriecht unter die Bettdecke. Er hasst dieses Geräusch.
Fünf Minuten später springt die Tür erneut auf. »Hallo Felix, bitte aufstehen. Bald gibt es Mittagessen. Milchreis mit Zimt, Zucker und Apfelkompott«, flötet die Mutter.
»Sofort, Mama.«, seufzt Felix, während er sich noch mal auf die andere Seite dreht und über die bevorstehende Zeitreise nachdenkt. Heute muss er seinem unheimlichen Bekannten seine endgültige Entscheidung mitteilen. Nicht einfach für ihn. Einerseits will Felix ja helfen, andererseits ist die Sache auch ziemlich gefährlich. Und wenn er Sebastian in das Abenteuer einweiht? Immerhin ist er sein bester Freund, obwohl sie seit gestern zerstritten sind. Felix will ihn dann anrufen. Ja, er wird sich bei ihm auch entschuldigen. Da ist er sich wirklich nicht zu schade. Sebastian ist das wert. Er muss es bloß geschickt anstellen, denn wenn er von seinem Erlebnis erzählt, wird der ihm einen Vogel zeigen.
»Jetzt aber raus aus den Federn, du Schlafmütze!«; wettert Mutter nun los, als sie abermals im Zimmer erscheint. »Oder soll ich einen Eimer mit kaltem Wasser holen?«
Nein, nur das nicht! Felix weiß, dass Mutter es ernst meint. Hat er schon mehrmals zu spüren bekommen. Flink steigt er aus dem Bett, gibt Mutter einen flüchtigen Schmatzer auf die Wange, flitzt ins Bad und steigt unter die Dusche.
Nach dem leckeren Mittagessen geht er in den Garten und setzt sich unter Jonas, dem alten Apfelbaum mit der weiten Krone. Jonas ist sein ganz besonderer Freund, dem er oft seine Gedanken anvertraut. Nachdem er das getan hat, schlingt Felix seine Arme um den dicken Stamm, um von dessen Kraft zu tanken. Ja, von der Natur ist der Junge völlig ergriffen. Bäume vermitteln ihm Stärke, das Leben und von den Bergwäldern fühlt er sich aufgenommen, wenn er einmal seine Seele baumeln lassen möchte.
Felix bittet den Baum um Hilfe und Jonas antwortet. Einige seiner jungen Blätter rieseln auf die Erde nieder, mitten in das saftige Gras hinein. Felix versteht die Situation so: Man muss loslassen können, wenn durch Fügungen wichtige Aufgaben anstehen. Auch wenn man noch so jung ist. Und man sollte fest daran glauben, niemals die Hoffnung verlieren. Das sei von unschätzbarem Wert. Er ist nun frei von inneren Zweifeln. Er will nach Moorland reisen, um den Körper des Baumelfen zu erlösen. Aber er will sich um jeden Preis noch Sebastian anvertrauen, denn vier Augen sehen mehr als zwei und zwei kluge Köpfe denken intensiver als einer. Felix dankt Jonas, in