Der Ehrenmord. Jan Eik
Augen und ließ sich auf seine Schlafstätte zurücksinken, als ginge ihn die ganze Angelegenheit nicht länger etwas an.
«Komm, mein Kleena.» Beinahe zärtlich hob Martha ihr greinendes Enkelkind auf und ging zur Tür. «Denn müssn wa uns ehm bei die Blauen nach deine Mutter erkundigen. Die wer’n schon wissen. ..»
«Biste meschugge?» Mit Schwung warf Max das Bettzeug von sich und stand auf. Nackt und bleich und drohend stand er da, die langen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ängstlich klammerte sich Hugo an Marthas geschwollenes Bein und beguckte Maxens langgezogenes Glied.
«Bei die Blauen! Wat Bessret fällt dir wohl nich ein, wie? Willste, dass die hier komm’ und allet koppstellen, dein Spinde durchwühlen und inne Nachbarschaft rumhorchen?» Er äffte das Gerede nach: «Bei die Jungnickeln is nämlich de Tochter verschwunden! Wer weeß, wo die ihr hinjetan ham. .. Diese Leute is doch alles zuzetraun!»
«Na, wat soll ick denn machen? Du hilfst mir ja nich, det Mädel zu suchen.»
Max warf seine langen Locken nach hinten und strich sie mit beiden Händen glatt. «Mensch, wat gloobste denn, wat ick die janze Nacht jemacht habe? Überall bin ick rumjekrochen und habe rumjefraacht. ..»
«Nenn mir nich Mensch! Ick bin immer noch deine Mutta! Haste wenichstens wat rausjekricht?»
«Nich die Bohne. Keena will ihr jesehn ham.»
«Aber es war schon die dritte Nacht!», jammerte Martha. «So lange is se noch nie wechjebliem.»
«Eenmal is keenmal.» Ungeniert kratzte sich Max die Hoden.
«Noch sind ja die Nächte warm.»
«Und wer hat dir so zerschrammt in die warmen Nächte?» Anklagend wies die Mutter auf die Nagelspuren auf seiner Brust.
Max’ Miene verfinsterte sich. Doch dann überzog ein breites Grienen sein Gesicht. «Allet aus reine Liebe, nischt weiter», sagte er stolz. «Manchmal sind die Mädels wie doll und verrückt.»
Martha schüttelte den Kopf. «Doll und verrickt - det werd ick hier ooch noch mal.»
VIER
GEGEN MITTAG war die Temperatur so weit angestiegen, dass Galgenberg nicht nur sein Jackett ausgezogen, sondern sogar die Hemdsärmel zweimal umgeschlagen hatte - ein geradezu unerhörter Vorgang, wie Kappe fand. Sie hatten das Fenster geschlossen und die schweren Vorhänge vorgezogen, aber die Hitze war aus dem engen Hof längst eingedrungen und erschwerte jede Tätigkeit. Kappe hockte apathisch hinter dem Schreibtisch und tat, als brüte er über seinem Bericht. In Wahrheit dachte auch er darüber nach, sich wenigstens etwas Luft zu verschaffen, als Dr. Kniehase zur Tür hereintrat und ihn mit einem maliziösen Lächeln musterte.
«Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch immer in der Gegend des seines Geruchs wegen unrühmlich bekannten Luisenstädtischen Kanals wohnen, mein lieber Kappe?», fragte er anzüglich.
Kappe missfiel allein schon der Ton der Frage. Aber was half es? Er musste nicken. «Waldemarstraße», fügte er vage hinzu.
Kniehase griente und sah dabei aus wie ein Hamster, der ein Loch im Getreidespeicher entdeckt hat. «Na, dann kommen Sie mal», sagte er. «Da wollen wir beide mal einen netten kleinen Ausflug unternehmen. Ich hole nur meine Photo-Utensilien.»
Er überließ es Kappe, den schweren Photokoffer zu schleppen. Sie verließen das Gebäude durch die übliche Seitenpforte, und Kniehase schlug auch richtig den Weg nach rechts zur Jannowitzbrücke ein. Statt jedoch die nächste Haltestelle anzusteuern, überquerte er an der Ecke leise vor sich hin pfeifend die Alexanderstraße. Ob Kappe ihm folgte, schien ihn nicht zu interessieren.
Erst vor dem Postamt an der Magazinstraße wandte er sich halb um und sagte: «Habe noch ein paar dringende Briefe abzusenden. Warten Sie ruhig hier.»
Verblüfft blieb Kappe in der knallenden Sonne zurück. Der hatte vielleicht Humor! Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei den dringenden Briefen um Kniehases Privatkorrespondenz handelte. Aber das ging ihn nichts an.
Unruhig schritt er vor dem Postgebäude auf und ab und hatte sich gerade entschlossen, doch in die kühle Schalterhalle einzutreten, als Kniehase forsch heraustrat und es tatsächlich wagte, ihn zur Eile anzutreiben: «Nun aber los, Kappe! Das wird heute vielleicht noch ein langer Tag!»
Kappe stiefelte einen halben Schritt hinter ihm. «Dann ist es aber besser, wir nehmen jetzt den Omnibus oder die Straßenbahn», sagte er.
«Nehmen wir», entgegnete Kniehase, schritt aber unbeirrt auf der falschen Straßenseite weiter und bog in die Blumenstraße ein. An der Haltestelle für den Kraftomnibus Nr. 2 blieb er stehen und sah sich nach Kappe um.
«Der fährt aber nicht in die Luisenstadt», wandte der ein.
«Habe ich behauptet, wir müssten in die Luisenstadt?», fragte Kniehase zurück. «Keine Angst. Da kommen Sie noch früh genug hin. Jetzt geht’s erst mal an einen angenehm kühlen Ort, mein lieber Kappe. Warten Sie’s nur ab.»
Seestraße stand an dem Omnibus, und natürlich musste Kniehase auf das offene Verdeck steigen. «Kommen Sie, Kappe, hier oben ist die Luft frischer», rief er auch noch, so dass Kappe ihm widerstrebend folgen musste, wobei ihm der Koffer zusätzliche Nöte bescherte. Wohin dieser Geheimniskrämer Kniehase mit ihm wollte, war ihm noch immer ein Rätsel.
Vorsichtig manövrierte er sich zu der Mittelbank auf dem Deck und ließ sich neben Kniehase nieder. Zu seinem Schrecken gewahrte er, dass der Bus nach links abbog und die Waisenbrücke überquerte. Auch das noch! Er schloss die Augen, um nicht hinunter auf das Wasser blicken zu müssen, und hoffte, Kniehase würde es nicht bemerken.
«Machen Sie ruhig noch ein Schläfchen», sagte der großmütig. «Wir fahren noch eine ganze Weile.»
Kappe schämte sich, doch die brennende Sonne und der Lärm in den staubigen Straßen überwältigten ihn wie eine Lähmung. Als er die Augen wieder öffnete, überquerten sie gerade den Spittelmarkt.
Mehr als eine halbe Stunde verging, bevor sie endlich die Linden passiert hatten, unter denen halb Berlin unterwegs zu sein schien.
Erst hinter der Weidendammer Brücke überkam Kappe eine plötzliche Ahnung, wohin die Reise ging. Und richtig. Am Oranienburger Tor kletterten sie von ihrem Hochsitz und bogen gleich darauf in die Hannoversche Straße ein. Das hatte ihm nach dieser Fahrt wahrhaftig noch gefehlt. Da leuchtete auch schon der gelbe Klinkerbau in der Sonne: das Leichenschauhaus.
Seit seiner ersten Berliner Leiche war er nun schon einige Male hier gewesen, aber dass er sich an das Haus und dessen eigenartige Atmosphäre gewöhnt hatte, konnte er wirklich nicht behaupten.
Um seine Beklommenheit zu überspielen, wandte er sich betont sachlich an Kniehase: «Wen hat man denn aus dem Luisenstädtischen Kanal geborgen?»
Kniehase hob die Schultern. «Wir werden sehen», sagte er sibyllinisch.
Ein spitzbärtiger junger Mediziner mit goldumrandetem Kneifer, der sich als Doktor Levinson vorstellte, erwartete sie. «Das hat ja gedauert!», merkte er kritisch an. «Da sind wir ja schneller in Paris, wenn’s ernst wird!»
Kniehase musterte ihn säuerlich. «Ist die Frau nicht sowieso tot?», fragte er. «Die rennt uns doch nicht weg.»
«Na, beinahe wäre sie weg gewesen.»
Der Doktor eilte ihnen mit langen Schritten voraus und öffnete einladend die Tür zum Sektionsraum. Kappe roch die Leiche, bevor er sie auf dem Metalltisch wahrnahm.
«Die Herren von der Feuerwehr waren nämlich der Meinung, es handle sich um eine ordinäre Wasserleiche. Doch weit gefehlt!» Doktor Levinson schlug das Tuch zurück, und Kappe sah zuerst das lange goldblonde Haar, bevor er das aufgedunsene Gesicht der jungen Frau wahrnahm, auf dem sich blutunterlaufene Flecke abzeichneten.
«Sehen Sie selbst - die Cyanosis und die konjunktivalen Blutungen sprechen eine eindeutige Sprache», erklärte der Pathologe ebenso lebhaft