Der Ehrenmord. Jan Eik
kenne keine Frau mit blondes Haar», sagte er fest und blickte Kappe treu in die Augen.
«Na schön, wie Sie wollen. Dann begleiten Sie mich jetzt am besten zum Präsidium, und dort werden wir das alles genau aufschreiben.»
«Nein.» Angstvoll sah sich Antek nach seinem treulosen Schwager um, doch der tat, als kenne er ihn gar nicht. «Ich will nicht ins Gefängnis! Ich habe nichts getan!»
«Nur in den vorläufigen Gewahrsam», beruhigte ihn Kappe, «bis wir geklärt haben, wo Sie sich tatsächlich aufgehalten haben.»
Die Aussicht, mit einem widerspenstigen Delinquenten noch einmal den weiten Weg zum Alex unternehmen zu müssen, missfiel ihm. Seine offizielle Dienstzeit war seit einer halben Stunde beendet. Gomollas Vernehmung samt Protokoll würde unweigerlich an ihm hängenbleiben. Also konnte er auch bis morgen damit warten.
Er musterte Gomolla von oben bis unten und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die schmuddlige Hemdbrust. «Sie bleiben heute Nacht hier. Und Sie entfernen sich keinen Schritt von ihrem Kahn, verstanden? Sonst. ..» Er machte eine unmissverständliche Geste des Kassierens.
Gomolla nickte eifrig.
«Morgen um zehn melden Sie sich im Polizeipräsidium bei der Kriminalabteilung. Bei Herrn Galgenberg», fügte er hinzu. Sollte der ruhig auch was für sein Geld tun, wo er immer so stolz auf seine Vernehmungskünste war.
Kappe wandte sich zum Gehen. Die Furcht, wieder über das schmale Brett balancieren zu müssen, wollte er sich nicht anmerken lassen. «Sie sind verantwortlich, dass er sich morgen pünktlich meldet!», ordnete Kappe an.
Zwietasch salutierte. Schließlich hatte er gedient und wusste, was sich gehörte.
Gomolla aber erkundigte sich kleinlaut: «Und was ist mit Papieren?»
«Kriegen Sie morgen wieder», antwortete Kappe. «Aber nur, wenn alles in Ordnung ist.»
Anton Gomolla hob die Schultern. «Ich weiß gar nicht - was ist passiert?»
Das wird dir dein Schwager schon erzählen, dachte Kappe, und der legte auch gleich in voller Lautstärke los: «Sie haben eine Wasserleiche gefunden. Heute Morgen. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren.»
Du selber hast sie gefunden, dachte Kappe, doch er konzentrierte sich darauf, mit eiligen Tippelschritten die Planke zu überqueren und sich über das rettende Ufergeländer zu schwingen. Den jungen Mann, der ihn dabei beobachtete, bemerkte er erst, als der ihn ansprach.
«Ist das wahr mit der Leiche?» fragte er mit rauer Stimme.
«Wird wohl so sein», entgegnete Kappe knapp. Es war nicht seines Amtes, die Neugier jedes Passanten zu befriedigen. Doch war etwas an dem jungen und ärmlich gekleideten Burschen - außer der gebrochenen Nase –, das ihn für einen Augenblick zögern ließ.
«Vermissen Sie jemanden?», fragte er.
«Na ja - nicht direkt. Oder eigentlich doch. Ich werde mal den Schiffer fragen.. .»
«Moment mal!» In Kappe, der vor einer Minute beschlossen hatte, es für heute gut sein zu lassen, erwachte der Kriminalwachtmeister, als der er sich sofort zu erkennen gab, worauf der Bursche sich erst einmal umwandte, als suche er einen Fluchtweg. «Also – wer sind Sie und wen suchen Sie?»
«Bloß meine Schwester. Sie wird schon wieder auftauchen. ..»
Nach langem Hin und Her erfuhr Kappe, dass er es mit Otto Unrauh aus der Adalbertstraße 101 zu tun hatte, der seine sechzehnjährige Halbschwester Lina Jungnickel suchte, von der er zögernd eine recht genaue Beschreibung abgab. «Sie hat lange blonde Haare. Aber die trägt sie nicht offen», schloss er.
Kappe nickte bedächtig. «Sie werden in die Hannoversche Straße fahren müssen», sagte er mit belegter Stimme. Es dauerte einen Augenblick, dann verstand Otto.
«Haben. .. Sie die Tote gesehen?», erkundigte er sich tonlos. Kappe nickte.
«Das übersteht Mutter nicht», sagte Otto, drehte sich um und wollte davontrotten.
SIEBEN
AUGUST PANKRATZ, 31 Jahre alt und seines Zeichens wohlsituierter Oberbuchhalter mit Prokura im Comptoir der Cohn & Friesackschen Handelsgesellschaft mbH in der Ritterstraße, feine Gläser, Porzellane, Steingut etc., nahm seine Abendmahlzeit täglich in der elterlichen Wohnung in der Britzer Straße ein. Nichts ging über Mutters Küche, oder besser: über die der Köchin Frieda, der August von Kindheit an einen ansehnlichen Schmerbauch verdankte. Auch deswegen tat ihm der feierabendliche Marsch von der Ritterstraße aus am Ufer entlang, quer über den Wassertorplatz unter der Hochbahn hindurch und links hinein in die Britzer, ebenso gut wie der anschließende Verdauungsspaziergang zurück zur Waldemarstraße, wo er ein möbliertes Zimmer bewohnte. Gewöhnlich kam er dort allerdings erst spät an; einladende Kneipen lagen am Wege, und auch sonst hielt ihn mitunter die eine oder andere Annehmlichkeit auf.
Es hatte lange gedauert, bei Vater und Mutter die eigene Bleibe durchzusetzen, doch nach Vaters Schlaganfall, der dem Alten die linke Körperhälfte auf Dauer lähmte, hatte es August nicht länger in der hochherrschaftlichen, nunmehr endgültig von der hysterischen Mutter beherrschten Wohnung gehalten. Dorthin mal ein Mädchen, ja eventuell sogar eine Dame mitzubringen, war gänzlich unmöglich, obwohl zu Mutters täglichen Klagen die besonders laute über die nicht vorhandenen Enkelkinder gehörte, die stets anhielt, bis Augusts warnender Blick sie traf. Für die Zeit des Abendessens hatte er sich ausdrücklich Ruhe für seine vom Büroalltag angegriffenen Nerven ausbedungen.
«Ich kann auch in einer Gastwirtschaft essen!», drohte er, obwohl er dafür viel zu sparsam war. Aber nachdem nun auch Gustav, sein jüngerer Bruder, sich endgültig mit ihr zerstritten hatte und ausgezogen war, fürchtete Mutter nichts mehr, als den Kontakt auch zu ihrem Kronsohn zu verlieren.
Nur einmal hatte sie es gewagt, in seiner Junggesellenbehausung in der Waldemarstraße aufzutauchen und festzustellen, dass seine Wirtin eine viel zu junge Person zweifelhafter Reputation war, aber die wohlproportionierte Frau Wanierke hatte sich zu wehren verstanden und natürlich nichts über eventuelle Besucherinnen verlauten lassen.
August war sparsam, wie seine Konten bei Sparkasse und Köpenicker Bank bewiesen, wusste aber sein Geld an der richtigen Stelle anzulegen. «Schweigen ist Silber», pflegte er zu sagen, wenn er seiner Schlummermutter, die seine pünktlichen Zahlungen schätzte und ihm inzwischen manche vertrauliche Geste nachsah, ein zusätzliches Geldstück überreichte, das ihren Gehör- und Gesichtssinn für eine gewisse Zeit benebelte. «Man war ja auch mal jung. ..», merkte sie dabei nicht ohne Koketterie an und erhielt dafür das prompte Kompliment, dass sie das doch wohl noch immer sei. Frau Warnieke war eine füllige Person von 35 Jahren, die sich ihrer Reize durchaus bewusst war. Eines Abends hatte sie ihn, mit einem seidenen Nachthemd nur leicht bekleidet, in seinem Zimmer heimgesucht, weil sie angeblich mit der Lampe nicht zurechtkam, und es war nicht bei der Lampenreparatur geblieben.
Am nächsten Morgen hatte er getan, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen, und auch sie hatte mit keinem Wort auf die vergangene Nacht angespielt, deren Ereignisse sich allerdings in unregelmäßigen Abständen wiederholten. August Pankratz fand es an der Zeit, dass diese Art von Vertraulichkeit ein Ende fand. Es war nicht gut, wenn jemand so viel über ihn wusste. Mehrfach hatte er darüber nachgedacht, das Domizil zu wechseln, fühlte sich jedoch insgesamt bei der Wanierken recht wohl. Nun erforderten die Ereignisse auf dem Balkan mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso eine grundlegende Änderung seiner Lebensumstände; da blieb die Kündigung des Zimmers noch das Geringste, was es zu bedenken galt.
August befand sich seit Tagen in einer geradezu euphorischen Stimmung, die ihn am Sonntag in die Innenstadt getrieben hatte, wo er auf Tausende Gleichgesinnte stieß und mit ihnen gemeinsam die Linden entlangparadierte. Auch heute Abend hatte er wieder vor, zur Friedrichstraße zu fahren und sich inmitten der patriotisch gestimmten Menge zu erbauen.
Seine Mutter indessen - als hätten sie keine eindeutige Vereinbarung über ihre Tischgespräche getroffen - schwätzte unaufhörlich daher, während er schweigsam den wohlgeratenen