Novembertod. Iris Leister
und über die Türen gewischt, als wolle sie das Holz von ihrem Spiegelbild reinigen. Kappe, dem Klara während der letzten Monate immer fremder geworden war, überfiel plötzlich eine unbändige Zärtlichkeit. Er hatte sie umarmt. Doch sie war zusammengeschrocken.
«Hör auf! Ich muss hier noch saubermachen.»
«Wie oft willst du die Möbel denn noch polieren? Es blitzt doch schon alles.» Kappe hatte auf die Einrichtung gezeigt, deren Oberflächen von Klaras täglichen Putzorgien glänzten, als seien sie nass. Klara hatte ihn ignoriert und langsam und methodisch weitergewischt, während Kappe sich ratlos in die Küche zurückgezogen hatte. Später hatten sie schweigend den bittermalzigen Kaffee getrunken. Danach hatte Kappe die Kachelöfen mit ein paar wenigen Kohlen angeheizt und Klara die Schuhe zugebunden. Dann waren sie zu ihrem morgendlichen Spaziergang zu Wertheim aufgebrochen.
Über den Mariannenplatz waren sie in Richtung Heinrichplatz gegangen, vorbei an dem verlassenen Sandspielplatz. Kappe hatte sich gefragt, ob sein Kind hier demnächst spielen würde. Er hoffte, dass es ein Junge werden würde, mit dem er in ein paar Jahren vielleicht einmal Fußball spielen konnte. Aber wer wusste schon, was in ein paar Jahren war? Es war nicht einmal klar, was die Gegenwart bringen würde. In den letzten Wochen schien die Welt aus den Fugen geraten zu sein. Der Krieg war trotz aller Siegesparolen auf einmal verloren, die alte Regierung zurückgetreten.
«Ob die Revolution auch nach Berlin kommt?», hatte Klara plötzlich gefragt, als hätte sie Kappes Gedanken gelesen. «Margarete sagt, dass es an der Zeit ist.» Sie war stehengeblieben. «Was dann wohl kommt?»
Kappe hatte sie angesehen. Es war warm für November. Der Geruch von verbrannter Kohle hing wie ein Schleier in der Luft. Am 29. und 30. Oktober hatten sich die Matrosen in Wilhelmshaven geweigert, auf eine letzte Todesfahrt gegen die englische Flotte auszulaufen. Das Todeskommando war abgeblasen worden, aber Hunderte waren verhaftet und auf Schiffen nach Kiel verfrachtet worden, wo sie der Kriegsgerichtsbarkeit und damit dem sicheren Tod entgegengesehen hatten. Am 4. November hatten die Matrosen, denen der Aufstand ihrer Kameraden das Leben gerettet hatte und die seitdem protestierten, in Kiel ihre Offiziere entwaffnet und die verhafteten Kameraden befreit - Seite an Seite mit den Arbeitern, die sich mit ihnen solidarisiert hatten. Seitdem war das Land in Aufruhr. Die Machtverhältnisse hatten sich umgedreht in Kiel. Die angestammten Machthaber hatten in der Stadt nichts mehr zu sagen. Von Kiel aus rollte diese revolutionäre Welle nun durchs ganze Kaiserreich. Nicht nur in Hannover, Köln und Frankfurt wehten schon die roten Fahnen, auch die Münchner hatten am vorherigen Tag ihren König Ludwig davongejagt und in Bayern die Rätedemokratie ausgerufen. Einzig in der Hauptstadt war es bisher ruhig geblieben.
«Wer weiß das schon. Immerhin haben wir Glück, dass es nicht so kalt ist. Bei den wenigen Kohlenmarken, die es gibt.» Kappe hatte nicht gewusst, was er sonst hätte sagen sollen. Er hatte Klara vorsichtig den Arm um die Schulter gelegt. Sie hatte es geschehen lassen. Arm in Arm waren sie rechts in die Oranienstraße mit ihren erloschenen Kaufhäusern eingebogen. «Irgendwie ist das ein falscher Winter», hatte Klara gesagt.
Ein Geräusch holte Kappe aus seinen Gedanken. Sie waren fast an der Köpenicker Straße. Er sah zu Klara, die neben ihm lief und plötzlich die Nase verzog. «Riechst du das? Das stinkt bis hierhin.»
«Ach Klara, du und deine übersinnlichen Gerüche.» Kappe roch nichts. Seitdem Klara schwanger war, fühlte sie sich von den Gerüchen des Luisenstädtischen Kanals geradezu verfolgt.
«Das musst du doch riechen!»
«Sei mal still!» Kappe versuchte, das Geräusch zu orten. Es war eine Art trockenes Rauschen. Kappe hatte das Geräusch schon einmal gehört. Plötzlich erinnerte er sich: Die Menschenaufmärsche zu Kriegsbeginn und die Streiks im letzten Winter hatten sich genauso angehört. Es war das Geräusch von Hunderten von Schritten. Kappe erschrak. Er versuchte, Klara von der Straßenecke fortzuziehen. Doch es war zu spät. Tausende von Menschen quollen plötzlich aus der Köpenicker Straße. Arbeiter trugen rote Fahnen. Mütter zogen ihre Kinder hinter sich her. Sie schwenkten Transparente aus Bettlaken und Pappschilder, die notdürftig auf Latten genagelt waren. Brüder, nicht schießen!, stand hundertfach auf den Transparenten.
«Hermann!» Klara stand da wie angefroren. Ihre Stimme zitterte. Diese versuchte, sie wegzuziehen, aber der Strom der Demonstranten riss sie mit. Ein ausgemergelter Mann hustete Klara an. Diese wandte sich stöhnend ab. Sprechchöre brandeten auf:
«Schluss mit dem Krieg!» und «Frieden und Brot!»
«Marschiert mit uns, Genossen!», brüllte ein Mann, der ein Pappschild mit der Aufschrift Wir wollen Brot trug. Ein anderer drückte Kappe ein Flugblatt mit dem Aufruf zum Generalstreik in die Hand. Klara hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht. Kappe sah ihre aufgerissenen Augen. Mit einer Hand klammerte sie sich panisch an ihm fest. Er versuchte, sie zwischen den vorwärtsdrängenden Leuten zum Straßenrand zu ziehen. Klara hing wie ein Gewicht an ihm. Sie bewegte sich schwerfällig. Er kam kaum voran. Jemand rempelte Klara an. Kappe war wütend. «Passt doch auf!» Plötzlich spürte er ihren Griff nicht mehr. Er drehte sich um. Klara war weg. Kappe roch Angst. Er wusste nicht, ob es seine eigene war. Fieberhaft suchte er nach Klara, schob sich durch die dicht an dicht marschierenden Menschen, versuchte, irgendwie zwischen den Reihen nach vorne zu kommen. Er sah in ausgemergelte Gesichter, die vor grimmiger Entschlossenheit glühten. Das Geräusch der marschierenden Füße hallte hundertfach verstärkt von den Häuserwänden wider und vermischte sich mit den Sprechchören.
Kappe fühlte sich, als wäre er unter Wasser. Er rief nach Klara, wurde geschubst, stolperte, wurde von jemandem hochgerissen, rief wieder. Er hörte ihre Stimme. Es klang, als sei sie irgendwo auf der anderen Straßenseite. Er kämpfte sich durch ein Meer aus Armen, Beinen, Oberkörpern, rannte dagegen an. Er wurde mit Flüchen überschüttet. Einem Mann, der sich ihm in den Weg stellen wollte, rammte er den Ellenbogen in den Magen, dann kämpfte er sich weiter - froh, dass der Mann sofort weggedrängt wurde. Endlich sah er Klara. Sie saß am Straßenrand, die Beine breit, stützte den weit nach hinten gelehnten Oberkörper mit durchgedrückten Armen ab. Das Taschentuch war ihr auf den Bauch gefallen. Es hob und senkte sich stoßweise. Kappe stürzte auf sie zu. Klara schluchzte. Kappe wiegte sie hin und her. «Was ist passiert? Hat dir jemand weh getan?»
«Die haben mich angesteckt.» Sie zitterte.
Kappe streichelte sie. «So leicht kriegt man die Grippe nicht. Komm, ich bring dich nach Hause.»
Klara weinte. «Jetzt muss ich sterben. Und das Kind auch.» Kappe sah sich hilfesuchend um, aber die Demonstranten marschierten achtlos an ihnen vorbei. Er versuchte, Klara hochzuziehen. Sie wehrte sich, und Kappe fühlte sich inmitten der siedenden Menschenmassen völlig allein. Er setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. «Du kannst doch hier nicht sitzen bleiben, Klara.»
Klara schluchzte nur.
«Komm, wir gehen nach Hause. Du wirst sehen, es ist alles in Ordnung.»
Klara schüttelte den Kopf. «Ist doch jetzt alles zu spät.»
«Quatsch mit Soße.»
«Für dich ist immer alles Quatsch mit Soße.»
«Mensch, Kappe, was macht ihr denn hier?» Kappe sah hoch. Trampe, sein alter Nachbar aus der Waldemarstraße, stand vor ihm. Er trug ein Schild in der Hand. «Sag bloß, es ist so weit.»
«Sie will nicht weiter.» Kappes Stimme war vor Aufregung ganz rau.
Trampe hockte sich vor Klara. «Kommt das Kind?»
Klara sah ihn an. «Ist sowieso egal. Ich hab ja jetzt die Grippe.» Trampe besprach sich kurz mit den Männern, mit denen er im Zug gelaufen war. Er gab ihnen das Pappschild. Kappe las die Aufschrift DeTeWe - Generalstreik - Schluss mit dem Krieg eher nebenbei. Die Männer zogen weiter.
Kappe und Trampe versuchten, Klara aufzuhelfen, doch sie stöhnte nur und klappte zusammen wie ein nasser Sack. «Klara, wir gehen am besten ins Krankenhaus. Da lassen wir dich untersuchen.» Kappe streichelte ihre Hand. «Bist du bereit?»
Sie zuckte mit den Schultern.
«Na los, wir versuchen es noch einmal.»