Novembertod. Iris Leister
Gestalten kam aus dem Gebäude und wurde von Frauen und Kindern freudig begrüßt. Kappe fühlte ein wenig Genugtuung. Das mussten die politischen Gefangenen sein.
«Kommissar Kappe, Sie interessieren sich wohl nicht für meine Ausführungen?» Von Unverth sah ihn unverwandt an. «Ich frage mich, ob Sie überhaupt bei der Sache sind. Was haben Sie eigentlich gemacht, während ich und Ihre Kollegen uns vor einem Revolutionskomitee rechtfertigen mussten?» Von Unverth sah nach draußen, wo die politischen Gefangenen immer noch auf die Straße strömten. Sein Schnurrbart zitterte wieder. «Sie haben die Politische Abteilung tatsächlich geschlossen.» Er schüttelte kaum merklich den Kopf und wandte sich wieder Kappe zu. «Nun? Sie haben doch nicht etwa mitdemonstriert?»
Kappe spürte die Blicke der anderen drei auf sich. Es war ihm klar, dass er von Unverth viele Fragen beantworten müsste, wenn er von seiner Suche nach Margarete erzählen würde. Fragen nach Margarete. Fragen nach seinem Umgang. Solange er nicht wusste, auf welcher politischen Seite der Regierungsrat stand, wollte er diese Fragen nicht beantworten. Also beschränkte er sich auf das Wesentliche. «Meine Frau ist auf der Straße zusammengebrochen. Ich musste sie ins Krankenhaus bringen. Sie ist hochschwanger.»
«Was ist eine der wichtigsten preußischen Tugenden, Kommissar Kappe?» Von Unverths Augen funkelten kalt.
Kappe schluckte. «Pflichterfüllung?»
«Na, ich sehe, bei Ihnen ist Hopfen und Malz noch nicht ver loren. Und im Fall einer hochschwangeren Ehefrau drücken wir mal ein Auge zu. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.»
Kappe beobachtete verwundert, wie das kalte Funkeln in von Unverths Augen in Sekundenschnelle erlosch und einem jovialen Gesichtsausdruck wich. Fast, als wäre er zwei Personen, dachte Kappe. «Ich weiß es nicht, Herr Regierungsrat», sagte er. «Die Schwestern konnten mir nichts sagen.»
«Das wird schon, Herr Kappe. Hab das Vaterwerden selber fünfmal mitgemacht. Aber vergessen Sie vor lauter Sorgen nicht, dass das kriminelle Element nicht schläft.» Von Unverth sah in die Runde. «Das gilt für Sie alle. Wir sind hier, um gegen das Verbrechen zu kämpfen. Ganz gleich, welchem Herrn wir dienen müssen. Wir werden mit dem neuen Regime so gut wie möglich zusammenarbeiten. Tun Sie also Ihr Bestes, selbst wenn es vielleicht schwerfällt. Besprechung beendet, meine Herren.»
Die vier gingen schnell nach draußen. «Richten Sie Ihrer Frau gute Besserung aus», sagte von Canow, bevor er in seinem Büro verschwand.
Kniehase nickte. «Von mir auch.» Er verabschiedete sich in sein Labor. Zum Schluss liefen nur noch Galgenberg und Kappe den Flur zu ihrem Büro entlang. Kappe überlegte fieberhaft, unter welchem Vorwand er seine Suche nach Margarete wiederaufnehmen könnte. Er sah seinen Kollegen, der schweigend und mit verschlossenem Gesicht neben ihm her ging, von der Seite an. Ich könnte genauso gut auch nicht da sein, dachte Kappe. «Ich werde noch mal nach meiner Frau sehen», sagte er.
Galgenberg zuckte mit den Achseln. «Wenn Sie meinen, dass das hilft.»
«Ich denke schon.» Kappe hatte nicht vor, zum Krankenhaus Bethanien zu gehen. Er würde Margarete suchen.
Unter den Linden und am Brandenburger Tor blühten die roten Fahnen. Die Straßen waren schwarz von Menschen. Schaulustige hingen wie dicke Krähen in den kahlen Bäumen. Offene Lastautos kurvten durch die Massen, besetzt mit Soldaten, die rote Armbinden trugen. Auf manchen stand Soldatenrat. Kinder wuselten herum. Kappe schien es, als sei ganz Berlin auf den Beinen. Er driftete durch das revolutionäre Gedränge, immer auf der Suche nach Margarete, und fühlte sich dabei wie ein Fremder.
Die meisten Menschen schienen zum Reichstag zu streben. Kappe arbeitete sich bis zu dem klotzigen Gebäude vor, vor dem die Menschen wie Ameisen wimmelten. Abordnungen betraten den Reichstag, andere verließen ihn wieder. Plötzlich wurden Arme gereckt und Hüte geschwenkt. Kappe sah an der Fassade hoch, die sich klobig und grau in den Himmel reckte. Ein Fenster war aufgegangen, und ein schmaler älterer Herr, den Kappe an seinem Knebelbart als Philipp Scheidemann erkannte, lehnte sich weit hinaus und begann zu sprechen. Kappe verstand die Satzfetzen «Einig und stark» und «Es lebe das Neue, es lebe die Deutsche Republik». Die Menge jubelte. Beifall brandete auf.
Kappe wurde von einem sonderbaren Gefühl ergriffen. Das Kaiserreich und damit alles, was er bis dahin gekannt hatte, war wirklich und wahrhaftig untergegangen. Aber statt Wehmut spürte er vorsichtige Neugierde. Margarete fiel ihm wieder ein, und er lief weiter durch die Menge. Es wurde heftig diskutiert. Wer nicht verstanden hatte, was Scheidemann gesagt hatte, dem wurde es in einer Art Stiller Post weitergegeben. Immer wieder fand er sich in Menschenknäueln wieder, in deren Mitte rotwangige Zeitungsjungen den Vorwärts verkauften. Auch hier wurde den Jungen die Zeitung nur so aus den Händen gerissen. Kappe hastete weiter.
Am Abend hatte Kappe die ganze Stadt durchkämmt. Erschöpft lief er nun durch die schwach erleuchteten Straßen von Kreuzberg. Natürlich hatte er die ganze Zeit gewusst, dass die Chance, Margarete in dem Trubel zu finden, kleiner gewesen war als ein Sechser in der Kaiserlichen Lotterie. Ehemals Kaiserlichen Lotterie, fügte er für sich hinzu. Trotzdem - es war ihm bisher immer gelungen, die Nadel im Heuhaufen doch noch zu finden. Er fragte bei Margarete Klumps Zimmerwirtin nach. Die hatte sie seit heute Morgen auch nicht gesehen. Als sie ihn in eine erregte Diskussion über das, was sie «die Zustände» nannte, verwickeln wollte, ließ er sie einfach stehen.
Rastlos lief er die Oranienstraße hinunter. Ihm war kalt. Kurz hinter dem Oranienplatz fiel Licht aus einer Speisewirtschaft auf die Straße. Das «Max und Moritz». Kappe war plötzlich nach einem Schluck Bier. Er öffnete die Tür. Lärm und der Geruch von Alkohol und Tabak schlugen ihm entgegen.
Der Eigentümer hatte sich persönlich die Einwilligung von Wilhelm Busch geholt, sein Lokal nach den beiden Buschschen Übeltätern zu benennen. Der Schriftsteller hatte die Genehmigung unter der Voraussetzung erteilt, dass es einmal die Woche Erbsensuppe gebe - was das «Max und Moritz» mittlerweile seit elf Jahren zu einer Institution in Kreuzberg machte. Das Lokal erstreckte sich über vier Stockwerke. In den ersten beiden waren die Speisesäle, im vierten die Büroräume und im dritten die hauseigene Fleischerei, die jetzt, in den Zeiten des Mangels, verwaist war. Auch die wöchentliche Erbsensuppe gab es schon lange nicht mehr.
Kappe wühlte sich durch die Menge bis zum Tresen. Im hinteren Saal gab es eine Versammlung. Als die Pendeltür aufschwang, sah er Margarete, die, eine Rede haltend, in diesem Augenblick aufsah und ihn entdeckte. Sie nickte ihm kurz zu und redete weiter.
Kappe hatte sich oft gefragt, was die Freundschaft zwischen Klara und Margarete ausmachte. Sie waren nicht lange Kolleginnen gewesen. Kurz nachdem Klara im Kaufhaus Hertzog angefangen hatte, wechselte Margarete zu Wertheim. Beide hatten sich erst vor zwei Jahren zufällig auf der Ritterstraße wiedergetroffen. Margarete hatte gerade die Nachricht bekommen, dass ihr Mann gefallen war. Klara hatte die todtraurige Margarete in ihre Wohnung geschleppt und sie vor eine Tasse heißen Ersatzkaffee gesetzt. Kappes mädchenhafte, manchmal durchaus kokette Klara, die sich für Filmdiven und Mode interessierte, und die nüchterne, politisch engagierte Margarete wurden dicke Freundinnen. Sie schienen auf geheimnisvolle Art aufeinander abzufärben: Klara interessierte sich plötzlich ein wenig für Politik, und Margarete verlor das Grimmige und begann wieder zu lachen.
Kappe kämpfte sich zu Margarete durch. Sie hatte ihre Rede beendet und passte ihn an der Pendeltür ab. Und dann war es, als ob eine Schleusentür geöffnet würde: Er redete und redete, erzählte ihr alles. Sie hörte zu. Stellte Fragen. Sie versprach, ihn gleich morgen früh um acht abzuholen und mit ihm ins Krankenhaus zu gehen. Dann musste sie sich wieder ihrer Versammlung widmen.
Kappe kam zurück in seine Wohnung. Die Öfen standen genauso da, wie er sie heute Morgen verlassen hatte. Die Ofenklappen waren offen, die Briketts nutzlos zu Aschekrümeln verbrannt. Auf dem Küchentisch standen zwei benutzte Kaffeetassen. Kappe schien es, als wäre dieser Morgen ein ganzes Jahrhundert her. Er legte sich in sein feuchtkaltes Bett und schlief einen faden Schlaf.
Nur wenige Kilometer entfernt saßen drei Männer vor einem Kaminfeuer. Der Hass und die Verachtung, mit denen sie über den vergangenen Tag sprachen, füllten den Raum wie ein giftiges Gas. Während sie auf einen vierten warteten, heckten sie einen teuflischen