Novembertod. Iris Leister

Novembertod - Iris Leister


Скачать книгу
Apparat auf einen Baum geklettert war, um die Soldaten und die zwischen ihnen hindurchströmenden Menschen zu photographieren. Er schaute sich wieder und wieder nach Margarete um. Vergebens. Ein paar Straßenecken weiter wurden einem Zeitungsjungen die Zeitungen nur so aus der Hand gerissen, und Kappe blieb im allgemeinen Gedränge stecken. «Hast du die Leute von Wertheim gesehen?», fragte er ihn.

      «Meester, ick bin froh, wenn ick meene Zeitungen seh.» Kappe kaufte ihm eine Zeitung ab. Der Junge drückte ihm glücklich grinsend eine Extra-Ausgabe des Vorwärts in die Hand. Es lebe die soziale Republik, stand dort zu lesen. Da Kappe fast am Alex war, beschloss er, sich zu seinem Büro durchzuschlagen. Vielleicht gab es dort Informationen über die einzelnen Demonstrationszüge. Als er endlich am Polizeipräsidium ankam, war das rote Gebäude umlagert. Revolutionäre Soldaten und Zivilisten standen Schulter an Schulter. Die Stimmung war eisig. Die Soldaten hielten die Gewehre im Anschlag. Ihnen gegenüber, hinter den Fenstern, standen die Schutzpolizisten. Ihre Waffen waren auf die Soldaten gerichtet.

      Kappe versuchte, den burgförmigen Bau zu umrunden. Er drückte sich durch die Mauer aus Menschen, bis er zu einem Seiteneingang kam. Die Demonstranten trennte nur noch ein halber Meter von der Tür. In der Hoffnung, sich unauffällig hineinschlängeln zu können, drängte Kappe sich nach vorne. Er war fast an der Tür, da fühlte er einen Griff wie ein Schraubstock an seinem Oberarm. «Na, Bürschchen, du gehörst doch nicht etwa zu dem Adelsclub da drinnen?» Ein massiger Typ mit Boxernase hielt ihn fest. Bevor Kappe antworten konnte, klirrten Scheiben. Der Kampfruf «Nieder mit der Regierung!» brandete auf. Die Masse drängte nach vorne. Die Tür gab nach. Der Typ funkelte Kappe an. «Bist du vielleicht sogar einer von der Politischen?»

      Kappe sah den blanken Hass in den Augen des Mannes. Er überlegte nicht lange. «Los, stürm mit, wenn du einer von uns bist!» Er machte sich los und schob sich nach vorne.

      «Du jefällst ma.» Der Mann griff Kappe erneut und zog ihn hinter sich. «Lass mir ma machen. Bin ja viel jrößa.» Er stampfte vorwärts. Kappe hing an ihm wie ein Fisch an der Angel. Er wurde durch den Seiteneingang geschleift. Soldaten und Zivile, alle drängten durch die Tür. Die bewaffneten Schutzpolizisten, die den Eingang bewacht hatten, flohen. «Dit macht Laune, wa?» Der Boxernasige lachte. Kappe grinste gezwungen.

      Die Schutzleute stoben vor ihnen her. Die Revolutionäre verfolgten sie. Der Boxernasige hatte Kappe immer noch fürsorglich umklammert. Gemeinsam rannten sie hinter den Schutzpolizisten her durch die Gänge bis fast zum Vordereingang. Dort standen die anderen Schutzpolizisten mit erhobenen Händen. Jäger und Gejagte prallten mit ihnen zusammen. In dem Durcheinander gelang es Kappe, sich von dem Mann mit der Boxernase loszumachen. Er zog sich vorsichtig zurück. Kappe wusste, dass auf dem Flur eine Kammer war, in der der Hausmeister seine Utensilien aufbewahrte. Schritt für Schritt näherte er sich der schmalen Tür. Immer wieder kamen Männer den Gang entlang und trieben Schutzleute vor sich her. Endlich hatte er es geschafft. Er öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Der Geruch von Bohnerwachs schlug ihm entgegen. Gerade als er die Tür zuziehen wollte, spürte er einen Blick auf sich. Böhlke, einer der Schutzmänner seiner Abteilung, den sie nur «Die Bulldogge» nannten, hatte ihn gesehen. Die Bulldogge ging mit erhobenen Händen vor einem Revolutionär her. Seine Pickelhaube saß schief auf dem Schädel, und sein Gesicht, das wie bei jedem Choleriker sowieso immer leicht rötlich angelaufen war, pulsierte in dunklem Rot. Ihre Augen trafen sich. Böhlkes Ausdruck war reglos, aber sein Blick sprach Bände.

      Kappe drückte die Tür zu. Bleierne Schwere überkam ihn.

      «Bitte nicht jetzt», dachte er noch, bevor die Bewusstlosigkeit über ihm zusammenschlug wie eine Welle aus Öl.

      Kappe kam inmitten von Eimern, Schrubbern und Lumpen zu sich. Das Erste, was ihm auffiel, war die unheimliche Stille im Haus. Er öffnete vorsichtig die Tür. Die Gänge waren leer. Kappe ging zu seinem Büro. Niemand war da. Er ging zum Telefon und wählte die Nummer des Kaufhauses Wertheim. Es klingelte endlos. Kappe fluchte und legte auf. Er sah gedankenverloren aus dem Fenster. Unten stand die gesamte Mannschaft der Schutzleute und wurde entwaffnet. Alles ging ruhig vor sich, nur ab und an pöbelte jemand herum. Eine Frau spuckte einen der Polizisten an. Die Männer, die die Polizisten entwaffneten, redeten beruhigend auf sie ein. Kappe wusste, dass die Schutzmänner als Büttel des Kaiserregimes verhasst waren. Es überraschte ihn, wie respektvoll die Revolutionäre mit ihnen umgingen. Er versuchte es noch mal mit dem Telefon. Wieder vergeblich. Er überlegte. Der Boxernasige und seine Bemerkung über die Politische Polizei kamen ihm in den Sinn. Die Spitzel der «Politischen» wussten sicher etwas. Kappe verwarf den Gedanken. Es war zu riskant, in der Abteilung zu fragen. Selbst wenn er äußerst geschickt vorging: Wenn die Revolution sich nicht durchsetzte, würde das Margaretes Fahrkarte ins Gefängnis bedeuten. Er musste wieder hinaus, sie suchen. Er riss die Bürotür auf. Vor ihm stand Galgenberg.

      «Kommissar Kappe, wie schön, Sie zu sehen! Ick bin sicher, Sie hatten wat Wichtijet zu tun, während wir unsere politische Integrität bewiesen haben.» Galgenberg schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Seitdem er aus dem Krieg zurückgekommen war und entdecken musste, dass Kappe an ihm vorbei Kommissar geworden war, hatte sich ihr Verhältnis merklich abgekühlt. Von dem fröhlichen Kollegen und Freund, der ihn oft mit seinen «Ein Satz mit …?»-Sprüchen gepiesackt hatte, war nicht mehr viel übriggeblieben. Besonders in den letzten drei Wochen schien Galgenbergs Laune noch weiter gesunken zu sein. Kappe hatte sich jedoch angesichts des ohnehin angespannten Verhältnisses nicht getraut, den Kollegen darauf anzusprechen.

      «Galgenberg, ich muss los.»

      «Freun Se sich, Herr Kommissar, gerade könnse ma Pause machen von Ihren unermüdlichen Bemühungen um die Reichshauptstadt. Audienz beim RR.»

      Kriminalinspektor Waldemar von Canow und Dr. Konrad Kniehase, der Spezialist für kriminaltechnische Untersuchungen, waren schon da, als Kappe und Galgenberg im Büro des Regierungsrates von Unverth ankamen. Kappe hatte es bisher noch nie betreten. Er war überrascht, denn der Raum war weniger Büro als Herrenzim mer: mit dunklem Holz getäfelte Wände, ein massiger Schreibtisch aus Eiche, der mit einem Übermaß an Verzierungen und Drechseleien eher wie das Modell einer mittelalterlichen Burg aussah, schwere Samtvorhänge, gefüllte Bücherregale.

      Von Unverth hatte sein Amt im Sommer 1917 angetreten, nachdem der alte Regierungsrat, der seine Amtsgeschäfte vorwiegend von seiner Privatwohnung in Schöneberg aus getätigt hatte, in Pension gegangen war. Er hatte sich sein Büro im Präsidium komplett neu einrichten lassen. Die teure Einrichtung, die eingebaut wurde, obwohl ringsum Mangel herrschte, gab dem Gerücht Nahrung, von Unverth habe außer dem unermesslichen Reichtum, den seine Familie mit riesigen Ländereien in Pommern angehäuft hatte, auch noch einen sehr guten Draht zum Kaiser. Dieses Gerücht sorgte dafür, dass der Regierungsrat als eine Art graue Eminenz angesehen wurde. Man sah ihn nicht, man hörte ihn nicht, aber alle bemühten sich, ihre Sache möglichst gut zu machen, um es sich nicht mit den Mächtigen zu verscherzen.

      Das Büro roch nach teurem Pfeifentabak und Leder. Von Unverth stand hinter seinem Schreibtisch. Auf der blankpolierten Schreibtischplatte lag offen die BZ am Mittag. Säuberlich gefaltet lag daneben ein Stapel anderer Zeitungen. Kappe konnte den Reichskurier mit seinem blutroten Namenszug und dem Reichsadler erkennen.

      Von Unverth strich über die Zeitung, als wolle er sie glätten. Kappe beobachtete die stumpfen, weichen Hände mit dem Siegelring, die immer wieder über die Überschrift fuhren: Der Kaiser hat abgedankt. Thronverzicht des Kronprinzen. Ebert wird Reichskanzler. Von Unverth sah auf. Sein Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart zitterte. Kappe hoffte, er würde endlich anfangen zu reden. Er ließ ungeduldig seinen Blick schweifen. Galgenberg stand mit undurchsichtigem Gesicht da. Von Canow saß in einem der mächtigen grünen Samtsessel und sah besorgt aus. Kniehase hatte etwas Eilfertiges an sich. Kappes Blick streifte den viereckigen hellen Fleck an der Wand hinter von Unverth. Der Kaiser hatte tatsächlich abgedankt. Zumin dest hier an der Wand, dachte Kappe und fragte sich, wie von Unverth wohl wirklich über die Ereignisse dachte.

      «Meine Herren», sagte der Regierungsrat. «Die Ereignisse zwingen mich, Ihnen Folgendes mitzuteilen. Unser gegenwärtiger Polizeipräsident, Herr von Oppen, gibt sein Amt an Herrn Eichhorn ab. Unsere Abteilung wurde, wie Sie wissen, überprüft. Sie bleibt erhalten,


Скачать книгу