Eden. D. J. Franzen

Eden - D. J. Franzen


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erkannt, dass Religion und Wissenschaft sich nicht ausschließen müssen. Ich glaube daran, dass Gott mich bewusst so geschaffen hat, dass ich dem Virus insoweit widerstehen kann, dass er aus mir keine seelenlose Fressmaschine macht. Er sagt mir damit, dass ich die armen Kreaturen hinter uns an einen Ort führen soll, wo sie ihren letzten Frieden finden werden. Zudem ist es besser für eventuelle weitere Überlebende, wenn ich wie ein Magnet die Metallspäne, das unselig belebte Fleisch hinter mir herziehe.«

      »Eine ziemlich freie Interpretation seines Willens, findest du nicht?«, fragte Longinus.

      Patrick schwieg und der ewige Wanderer erkannte einmal mehr, wie schwer die Schuld auf den Schultern Patricks lastete. In Bonn hatte er seine kleine Herde aus Überlebenden im Stich gelassen, als General Dupont einen Gottesstaat auf den Trümmern der alten Welt errichten wollte. Stark war ihm begeistert gefolgt und sogar bereit gewesen die Kinder, die er in Köln half zu retten, auf dem Altar des wahren Glaubens zu opfern. Er hatte die verraten, die er eigentlich schützen wollte, weil sie anders waren. Jetzt war er einer von ihnen und sogar noch etwas mehr. Ein Zwischending aus einem Untotem und einem lebenden Menschen, mit der Gabe die Stinker an sich zu binden *).

      Longinus nickte versonnen vor sich hin, während sie dem Verlauf der Autobahn folgten. Es war also kein Wunder, das Patrick versuchte einen Sinn hinter all dem Geschehenen zu erkennen. Aber wenn das wirklich alles Gottes Wille war, dann hatte ER einen seltsamen Sinn für Humor.

      Wie um diese Tatsache zu beweisen, stolperte Longinus. Er fing sich und sah auf seine Füße. Die Sohle seines rechten Schuhs hatte sich gelöst und hing, als er den Fuß leicht anhob, wie eine erschlaffte Zunge vom restlichen Schuh herab. Patrick blieb neben ihm stehen.

      »Ich fürchte, dass unsere Begleiter etwas widerstandsfähiger sind, als unsere Ausrüstung«, sagte er ehemalige Geistliche mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen. »Sie ermüden nicht, brauchen weder Rast noch Proviant und können ewig so weitermarschieren.«

      *) Siehe Band 4 »Babylon« und Band 5 »Herbst«

      Longinus nickte.

      »Ich fürchte, da hast du recht, mein Gefährte. Zumindest, was unsere Ausrüstung betrifft. Ich mag zwar über andere Fähigkeiten verfügen, als ein normaler Mensch, dennoch bin ich darauf angewiesen, ab und an eine Rast einzulegen und zu essen und zu trinken.«

      Patrick wurde blass und Longinus erkannte, was er gesagt hatte. Ehe Longinus etwas sagen konnte, trat Patrick einen Schritt näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

      »Welche Schuhgröße hast du?«

      »Vierundvierzig.«

      Patrick lächelte und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Dann werde ich in meiner Herde um eine gnadenvolle Spende für dich bitten. Vielleicht finde ich ja einen heiligen Sankt Martin, der statt seines Mantels, sein Schuhwerk mit dir teilt.«

      Longinus sah Patrick in die Augen und bemerkte ein fröhliches Funkeln in dessen Augen. Schließlich lächelte er. »Möchtest du dir vorher noch eine Laterne basteln und dir die Lieder deiner Kindheit in Erinnerung rufen?«

      Patrick schüttelte grinsend den Kopf.

      »Es wird auch gehen, ohne dass ich Martinslieder schmettere.« Er wandte sich ab und schritt auf die Untoten zu, die im respektvoll erscheinenden Abstand hinter den beiden stehen geblieben waren. »Ansonsten werde ich es mit den amerikanischen Brüdern halten und Süßes oder Saures skandieren«, rief er über die Schulter zurück.

      Longinus` Gelächter hallte noch durch die tote Landschaft, als Patrick schon das Schuhwerk der ersten Untoten in ihrem Gefolge auf Haltbarkeit und passende Größe untersuchte.

      ***

      Patrick atmete auf, als er sich umsah und Longinus nicht mehr sehen konnte. Seine Hände zitterten. Der Ruf hatte ihn ereilt. Wieder einmal. Und mit ihm kam der große Hunger. Eilig ging der ehemalige Pfarrer noch ein ganzes Stück tiefer in die Horde der Stinker, die ihm bereitwillig Platz machten und verständnislos anblickten. Ja, er war so etwas wie ihr Hirte, ihr Führer durch ein totes Land. Aber auch ein Hirte musste leben. Heiße Tränen der Scham brannten in Patricks Augen, als er an einen halb nackten Untoten kam, in dessen rechte Wade ein großes Stück Fleisch fehlte. Untot oder nicht, auch er brauchte Muskeln, um sich zu bewegen. Und er war aufgrund seiner Verletzung zu langsam.

      Patrick murmelte ein schnelles Gebet, während er die kurze Distanz zwischen sich und dem Stinker überwand. Unbändiger Hunger gewann die Oberhand über Schamgefühle. Und als das gehauchte Amen in der Stille der toten Welt verblutete, grub Patrick Stark seine Zähne in den Oberarm des Stinkers. Ja, auch ein Hirte musste essen, damit er leben und seine Herde führen konnte. Und in Zeiten der Not aß ein Hirte auch die Lämmer seiner eigenen Herde. Und der Ruf blendete alles klare Denken in Patrick aus.

      Kapitel III

      »Fragen«

      Die Neonröhre in dem kahlen Raum summte leise. Ihr grelles Licht ließ in den Ecken der Betonwände keine Schatten zu. An dem einen Ende des Raumes stand ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch war ein Schachspiel aufgebaut. Eine Frau in einem weißen Anzug saß starr vor dem Spiel und starrte ins Leere. Seit der Vereinigung mit ihrem Bruder Gabriel hatte Luzifer den Raum nicht mehr verlassen *). Zumindest körperlich nicht. Ihr Geist schwebte in einer Ebene, die die Alten den Nimbus nannten. Hier konnte Luzifer das Geschehen auf der Erde sehen und von Ort zu Ort eilen, ohne körperlich anwesend zu sein. Doch die Vereinigung mit ihrem Bruder hatte sie Kraft gekostet. Sie beide. Dank ihrer Kräfte war es ihr gelungen, Nahrung und Trinken von den verschiedensten Orten hierher, in diesen kahlen Raum eines russischen Raketensilos zu schaffen, und einen Verfall ihres fleischlichen Körpers zu verhindern, aber zu mehr war sie nicht in der Lage. Denn in ihrem Inneren tobte immer noch ein Kampf um die Vorherrschaft.

      *) Siehe Band 8 »Terror«

      Schwester, lass mich doch endlich auch etwas tun!

      »Nein!«

      Aber habe ich mich nicht mit dir vereint? Freiwillig, wie ich nochmals betonen möchte!

      »Ja, das hast du. Aber ich kenne dich. Du bist die Hinterlist in Person. Du hast mich mit der Vereinigung überrumpelt!«

      Warum überrumpelt? Ich wollte unser beider Kräfte bündeln und endlich das Richtige tun. Ich wollte den Menschen vertrauen und den wenigen Überlebenden helfen, einen sicheren Ort zu finden.

      »Aha. Du WOLLTEST also vertrauen, du WOLLTEST also helfen. Das ist mir ein wenig zu vage.«

      Ah, du weißt, was ich meine, Schwesterherz.

      »Ja, ich weiß, was du meinst, Gabriel. Du vergisst aber, dass wir vereint sind und du mich nicht täuschen kannst. Ich spüre in deinen Worten Schwingungen, die mich zweifeln lassen. Außerdem hast du dich in Vergangenheit auch nicht gerade mit dem Ruhm eines Philanthropen bekleckert.«

      Ein Lachen hallte durch das doppelte Bewusstsein.

      Wie meinst du das denn, Luzifer?

      Statt einer Antwort flammten Bilder in dem doppelten Bewusstsein auf.

      Prunkvoll gekleidete Monarchen und Bischöfe, über Karten gebeugt, auf denen Landesgrenzen zu sehen sind. Auf den Karten kunstvoll verzierte Holzklötze, die die verschiedensten Truppenarten darstellen. Im Hintergrund ein Mann mit tiefschwarzen Haaren und dem zufriedenen Lächeln eines gesättigten Wolfs auf den Lippen.

      Ein weites Feld, von Bäumen umsäumt. Zwei große Armeen, die sich gegenüberstehen, die Bajonette aufgepflanzt, bereit auf das Kommando ihrer Generäle hin loszustürmen. Auf einem Hügel, weit abseits der Schlacht, eine Handvoll Reiter in reich verzierten Uniformen, die Blicke auf das Schlachtfeld gerichtet. Neben dem General der Truppen ein Mann mit tiefschwarzen Haaren auf einem schwarzen Rappen. Er lehnt sich zur Seite und flüstert dem General etwas ins Ohr. Der nickt, und der dunkle Mann setzt sich mit einem zufriedenen Lächeln wieder aufrecht in seinen Sattel.

      Ein Labor, dessen eine Wand fast vollständig aus Glas besteht. Hinter der Glaswand ein Zimmer


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