Planetenschleuder. Matthias Falke
wusste. Auch ich rätselte, wie diese Entdeckung einzuordnen sei, selbst wenn wir voraussetzten, dass es sich dabei um einen Tatsache und nicht um eine Hypothese handelte.
»Unsere Instrumente«, erläuterte Frankel, »registrierten eine starke Verwerfung des Raumzeitkontinuums. Die Schockwelle lief längs durch unser Schiff hindurch. Sie alle haben die Verwindungen gespürt.«
»Wir können von Glück sagen«, nahm Rogers wieder das Wort, »dass das Schiff nicht durch diese Kräfte zerstört wurde. Allerdings wurden unsere Instrumente geblendet und teilweise ausgeschaltet.«
»Sie meinen«, warf Jennifer ein, »das Deepfield war bereits tot, als der Einschlag erfolgte?«
»Der Meteorit«, nickte Rogers, »vollendete nur noch mechanisch, was zu diesem Zeitpunkt schon Realität war.«
Ich musste einmal tief durchatmen.
»Jemand hat uns ein Tuch über den Kopf geworfen und uns dann eine rechte Gerade verpasst?«
»So ungefähr«, meinte Frankel.
Jennifer hatte sich erhoben. Sie ging erregt auf und ab und schien dabei die einzelnen Punkte noch einmal für sich abzuhaken, als müsse sie an den Fingern zwei und zwei zusammenzählen.
»All das«, sagte sie, »ereignete sich innerhalb weniger Sekunden oder bestenfalls einiger Minuten.« Sie nahm das Schweigen, das sich vor ihr öffnete, als Zustimmung. »Das erklärt aber immer noch nicht, wie der Meteorit so plötzlich vor uns auftauchen konnte.«
Ich suchte Reynolds' Blick, aber er strich sich das Kinn und verharrte in der Pose tiefer Konzentration. Jennifer blieb auf ihrer Wanderung stehen.
»Ich habe doch recht, oder?«, rief sie unsicher.
»Wir verstehen die Natur dieses Impulses noch zu wenig«, brachte Frankel vor. »Ein vergleichbares Phänomen tritt auf, wenn das Schiff einen Warp-Korridor öffnet.«
Das stimmte natürlich, aber die MARQUIS DE LAPLACE lag seit Wochen mit abgeschalteten Reaktoren auf ihrer Parkbahn und andere Schiffe waren in weitem Umkreis nicht vorhanden.
»Wir haben aber«, sagte Wiszewsky, »den Warp-Raum weder geöffnet noch verlassen, und meines Wissens sind wir weit genug von allen bekannten Singularitäten oder sonstigen natürlichen Gegebenheiten entfernt, die Sie als Erklärung heranziehen könnten.«
Er hob die Hand über den Kopf und tätschelte Svetlanas Bäckchen. Im Gegenzug zupfte sie an seinem schütteren Haar, das zerzaust um seine Schläfen herumstand. Das Geturtele dieser beiden war für gewöhnlich schon schwer zu ertragen, aber in angespannten Situationen wie dieser raubte es einem den letzten Nerv.
Wir standen vor etwas Unerklärlichem.
»Ein Gra-vi-ta-tions-impuls?«, war Reynolds zu vernehmen. Seine gedehnte Frage kam wie ein Echo, das nach langer Zeit aus einem tiefen Abgrund herauftönt und mit dem schon niemand mehr gerechnet hat. Mit blindem Blick starrte der WO durch uns alle hindurch. »Ich hatte«, schien er zu sich selbst zu sprechen, »eine solche Idee, konnte sie aber nicht weiter verfolgen.«
»Die Aufzeichnungen«, wiederholte Frankel, »zeigen, dass unsere Instrumente eine gravierende Schwereanomalie registrierten, ehe sie sich verabschiedeten.«
Reynolds brütete vor sich hin.
»Vielleicht ein Zeitfenster«, warf Jill in ihrer schrillen Art ein. »Der Impuls hat zu einem Zeitdefekt geführt, sodass der Meteorit scheinbar ganz plötzlich da war. Er war schon zwanzig Stunden auf den Schirmen unserer Vorfeldaufklärung, aber für uns waren das nur zwanzig Sekunden. Haben Sie schon einen Zeitabgleich mit den Jupiter-Stationen durchgeführt?«
Sie quasselte ohne Punkt und Komma und fuchtelte mit ihren knochigen Händen in der Luft herum, dabei stierte sie hysterisch vor sich hin, während ihr Gesicht sich mit hektischen roten Flecken überzog. Es war furchtbar.
Reynolds schüttelte nur den Kopf.
»Halten Sie den Mund, Lambert«, sagte ich grob, was mir wiederum einen strengen Blick von Jennifer eintrug.
»Das Auftreten eines Gravitationsimpulses«, fuhr Reynolds fort, »könnte die Sachlage erklären.«
Er machte allerdings keine Anstalten, uns in seine Gedankengänge einzuweihen. Wie eine Karikatur hockte er da und grübelte vor sich hin. Wir warteten und schwiegen.
»Nun, man müsste das alles noch einmal durchrechnen«, sagte Frankel nach einer Weile. »Wir sind ja bisher kaum darüber hinausgekommen, die möglichen Fehlerquellen auszuschließen und die Datenlage zu verifizieren.«
Reynolds nickte, als sei er im Stillen zu einem Entschluss gekommen.
»Ja«, sagte er, ohne auf Frankel einzugehen. »Es wäre eine Möglichkeit.«
»Lieber Reynolds«, ließ Laertes sich jetzt vernehmen, der zum ersten Mal das Wort ergriff, seit er zu unserer Runde gestoßen war. »Würden Sie die Freundlichkeit haben, uns an ihren Überlegungen teilnehmen zu lassen?«
Für gewöhnlich war es Sache des greisen Philosophen, ein Ereignis gründlich durchzudenken, wenn er auch eher an den Konsequenzen als an den Details interessiert war.
Er war jahrzehntelang Projektleiter des führenden Institutes für KI gewesen, ehe er sich, von den Unzulänglichkeiten des kybernetischen Bewusstseins enttäuscht, wieder den alten Griechen zugewandt hatte. Zwar hatte er einen Master in Philosophie, bezeichnete sich aber trotzig als Autodidakten. Seit zehn Jahren in Ruhestand versetzt, weigerte er sich, die MARQUIS DE LAPLACE zu verlassen und nahm so Passagier an ihren Einsätzen teil.
Reynolds nickte wieder. Diesmal mochte man eine Zustimmung daraus ablesen und eine Bereitschaft, Laertes' Aufforderung nachzukommen.
»Es gibt da«, sagte er langsam und sehr leise, »dieses Theorem, von zwei Russen. Ich habe mich früher einmal damit beschäftigt ...«
»Der Satz von Chessov und Tschernischenko«, stimmte Laertes ein. »Aus den Dreißigerjahren. Sie müssen damals noch sehr jung gewesen sein.«
»Die Formulierung des Satzes«, lächelte Reynolds, »fiel in die Zeit vor meiner Geburt. Aber er wurde immer noch diskutiert, als ich die Akademie besuchte. Mehrere Semester lang habe ich mir die Zähne daran ausgebissen.«
Die beiden Schlaumeier, der Alte und der Junge, grinsten versonnen vor sich hin, als hingen sie gemeinsamen Jugenderinnerungen nach.
»Ich habe davon gehört«, machte Rogers grimmig. »Rufen Sie uns kurz ins Gedächtnis zurück, wovon der Satz handelt?!«
»Chessov und Tschernischenko«, wiederholte Reynolds abwesend, »genau. Einer der beiden war, glaube ich, blind.«
Laertes legte den Kopf in den Nacken und fixierte einen ganz bestimmten Punkt an der hohen weißen Decke des riesigen Raumes, in dem es jetzt wieder sehr still war.
»Tschernischenko«, bestätigte er. »Er verlor bei einem Laborversuch das Augenlicht.«
»Und Chessov endete später in der Klapsmühle«, fiel Reynolds wiederum ein, den ich langsam ebenfalls dorthin wünschte. Er stieß ein verächtliches Grunzen durch die Nase aus. »Beides trug nicht unbedingt dazu bei, die Reputation der beiden zu erhöhen und ihre Theorie mit Plausibilität auszustatten.«
Laertes schmunzelte, ohne jedoch den Blick von dem rätselhaften unsichtbaren Punkt fünf Meter über uns zu nehmen.
»Dass ein Geisteskranker Geister sieht«, sagte er, »heißt nicht, dass diese nicht existieren; vielleicht können sie einfach nur von uns Normalen nicht wahrgenommen werden.«
»Und mit solchen geisteskranken Geistern wollen Sie uns aus der Patsche helfen?!«, brauste Rogers auf.
Reynolds nickte ein »Ja, ja, ist ja schon gut!« in den Raum.
»Der Satz von Chessov und Tschernischenko könnte in der Tat erklären, was hier vorgefallen ist. Ich muss das Theorem nicht näher ausführen, aber wir können es als Modell benutzen. Es vermag zu begründen, warum unsere Instrumente