Planetenschleuder. Matthias Falke
und her zu gehen.
»Major Ash, bitte«, flehte Jill.
Normalerweise wäre es meine Aufgabe gewesen, einen Lagebericht anzufordern, und auf der Brücke der Enthymesis hätte ich den entsprechenden Befehl auch in dieser Sekunde erteilt. So irritiere mich die seltsame Kommunikationssituation. Wir standen in einem Winkel, wo sonst Putzroboter parkten oder Mechaniker die Verschalungen der Feldgeneratoren überprüften, sich aber kaum jemals ein Offizier der fliegenden Crew hinverirrte, starrten auf behelfsmäßige Konsolen, die ich mir als Standardausstattung des primitivsten Shuttles verboten hätte und über die die kryptischen Daten improvisierter Programme liefen, während wir über einen Schirm mit der Brücke verbunden waren, wo ein cholerischer Dr. Rogers schimpfend und tobend auf und ab tigerte.
»Wir waren eine halbe Stunde offline«, erläuterte Jennifer, als erkläre sie am Tag der offenen Tür einem Zivilisten die Funktionsweise eines 100-Millionen-Dollar-Cockpits. »Bei seiner Geschwindigkeit und der Entfernung hätte der Meteorit vor« - sie überschlug die Daten im Kopf -, »vor mindestens 20 Stunden auf den Schirmen unseres Deepfieldradars auftauchen müssen.«
»Das verstehe ich nicht«, wimmerte Lambert. »Er kann doch nicht aus dem Nichts kommen ...«
»Eben«, donnerte Rogers auf der anderen Seite wieder los. Jills Einlassungen brachten ihn immer besonders in Rage. Ich stimmte ihm darin zu, dass sie schwer zu ertragen war, hatte mich aber in zahllosen gemeinsamen Enthymesis-Einsätzen schon daran gewöhnt.
»Physikalisch gesehen gibt es zwei Möglichkeiten«, begann Reynolds in näselndem Tonfall. »Entweder das Objekt war sehr viel schneller, annähernd Lichtgeschwindigkeit, sodass es in den 30 Minuten unserer Blindheit so dicht an uns herankam und dann seine Geschwindigkeit verringerte ...«
»Klingt blödsinnig«, warf Rogers ein. »Oder?«
»Oder es kommt aus einer Dimension des Hyperraums.«
»Dann wäre es wirklich ein Beschuß«, rief Frankel aus, der sich über diese Möglichkeit zu freuen schien. Um seine Metapher vom Zielen gerechtfertigt zu finden, fand ich den in Kauf genommen Aufwand allerdings etwas hoch.
»Und von wem?«, schaltete ich wieder in die Debatte ein.
»Eine Warp-Schleuder?«, fragte Jennifer wie aus einem tiefen Traum erwachend.
»Und was glauben Sie, wer dahintersteckt?«, fragte Frankel, der umso begeisterter wurde, je absurder die zur Verfügung stehenden Theorien wurden.
»Das tut jetzt nichts zur Sache«, donnerte Rogers. Er stand breitbeinig da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ein Kommandant auf seinem Schiff, das in die Schlacht fährt. »Die philosophischen Implikationen klären wir später. Jetzt sitzen wir als manövrierunfähig fest, und ein massereiches Objekt kommt mit staunenerregender Geschwindigkeit direkt auf uns zu.« Er wiederholte die letzte Frage: »Wie viel Zeit bleibt uns?«
»Keine dreißig Minuten mehr«, sagte Frankel mit einem Blick auf seine Konsole.
»Wie groß ist das Objekt?«, erkundigte ich mich, auch wenn es mir einen vernichtenden Grunzer von Rogers eintrug.
»zehn Komma sieben Tonnen«, war die Antwort, die Jennifer und Frankel simultan erteilten.
»Das hat er nicht gefragt«, brauste Rogers auf. »Die Abmessungen?!«
»Ein mal eins Komma zwei mal zwei Meter«, las Jennifer von ihrem Monitor ab. Die Messergebnisse hatten sich stabilisiert. Obwohl sie alle paar Sekunden aktualisiert wurden, gaben sich Veränderungen nur noch bei den Stellen hinter dem Komma. Das galt leider auch für die Bahnberechnung, die bei jedem Update noch um ein paar Zentimeter präziser auf den Schwerpunkt von Segment IV zielte.
»Gar nicht mal so groß«, meinte sie. »Mit starker Unwucht rotierend, weshalb in der Bahnberechnung auch noch eine minimale ...«
Sie kam nicht dazu, ihre Eingabe zu beenden. Rogers explodierte mit solcher Wucht, dass ich mich fragte, ob der Einschlag des Meteoriten wirklich die größte Gefahr war, der wir ausgesetzt waren.
»Gar nicht mal so groß«, äffte er und tobte dabei vor sich hin, dass ich froh war, ihn kilometerweit entfernt im vorderen Bereich des Schiffes zu wissen. »Zehn Tonnen massives Eisenerz kommen mit fünfunddreißigtausend Sachen auf uns zugerauscht, und Madame findet, das sei gar nicht so schlimm!«
Er rang nach Luft, wobei ein rasselndes Geräusch zu hören war, das mich um seine Gesundheit fürchten ließ. Sein Gesicht war dunkelrot. An den Schläfen traten dicke blaue Knoten hervor. Er sah aus, als wolle er sich die geäderten Augäpfel aus dem Schädel pressen.
»Das Ding schlägt uns in der Mitte durch wie der Handkantenschlag eines Kung-Fu-Kämpfers einen dürren Ast.« Er fasste Jennifer durch den Schirm hindurch scharf ins Auge. »Ihre geliebten Enthymesis-Explorer werden gleich in ihren Hangars pulverisiert, dass man die Detonation noch auf der Erde sehen kann!«
»Dann sollten wir es nicht so weit kommen lassen«, sagte Jennifer ungerührt und erhob sich von ihrer Konsole.
»Was haben Sie vor?«, fragte Frankel mit panischem Unterton in der Stimme. Er war einer dieser rechtschaffenen Bürger, die, während ihr Haus in Flammen steht, die Feuerwehrleute ermahnen, den Rasen nicht zu zertrampeln. Und er kannte Jennifer gut genug, um zu wissen, dass sie eine Vabanque-Spielerin war. Bei zahllosen Enthymesis-Einsätzen hatte sie bewiesen, dass sie in ausweglosen Situationen zu einer Künstlerin wurde, die mit graziöser Anmut Manöver von großer Eleganz und noch größerem Risiko vorführte.
»Wir lösen die Segmentkupplung zwischen IV und V«, riet ich.
»Das werden Sie schön bleiben lassen«, donnerte Rogers. Er schien gewachsen zu sein oder einen halben Meter über dem Boden zu schweben, anders konnte ich es mir nicht erklären, dass er über Frankel hinweg, der größer war als er und dichter am Schirm stand, in den Monitor brüllen konnte. »Sie würden unsere ohnehin fragile Automatik amputieren, wenn sie den Kontakt zwischen der Brücke und der Wissenschaftlichen unterbrächen. Außerdem dauert das Wiederankoppeln Stunden, und solange wären wir noch hilfloser als jetzt.« Sein Blick wurde schwarz und eng wie die Mündung einer kleinkalibrigen Strahlenwaffe. »Nur für den Fall, dass das Spiel mit Nummer vier nicht schon vorbei ist!«
Das war eine der Äußerungen, an denen man den ehemaligen General und Strategen erkannte. Aus Sicht des einfachen Soldaten, der auf verlorenem Posten verheizt wurde, schien es zwar Irrsinn zu sein, eine Schlacht verloren zu geben, um sich auf die nächste vorbereiten zu können, die kaum weniger verlustreich werden würde, aber an solchen ungerührten Gedankengängen erwies sich eben der kühne und weitblickende Schlachtenlenker.
Ich sah auf die Uhr. Die kostbaren Minuten rannen dahin. Mit einer Geschwindigkeit, die in dem Moment, da sie auf eine feste Bezugsgröße prallte, tödlich wurde, raste ein Objekt von der Masse einer Drohne heran, und wir standen da und debattierten. Sollten wir nicht langsam in die Boote gehen? Aber auf dem Oberdeck der Titanic wurde um die bequemsten Sitzplätze gefeilscht, während man sich im Bauch des Schiffes um die Buttervorräte stritt.
Wie immer, wenn die Situation schon nervenzerraspelnd genug war, meldete sich Jill mit einem absurden Vorschlag zu Wort.
»Warum zünden wir nicht einfach das Haupttriebwerk und schleichen uns aus der Schußbahn davon?«, fragte sie arglos. Es war ein weiteres Beispiel für ihre Unfähigkeit, unter Stress das logische Denken beizubehalten. Dinge, die ihr als Zweiter Pilotin klar sein mussten und die sie in der Messe beim Kaffee auch parat gehabt hätte, entfielen ihr, sowie es nur hoch her ging. Reynolds, der im Gegensatz dazu immer noch ruhiger und geduldiger wurde, je mehr die Dinge in Schieflage kamen, erklärte es ihr.
»Der Reaktorblock ist zu Wartungsarbeiten heruntergefahren, seit wir hier in die Parkbahn eingeschwenkt sind«, sagte er, als hätten wir alle Zeit zur Verfügung, solche Albernheiten auch noch ernsthaft durchzudiskutieren. »Ihn jetzt wieder anzuwerfen, würde mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Außerdem wäre es Wahnsinn, den Reaktor bei dem instabilen Zustand unserer Automatik hochfahren zu wollen.«
Lambert wischte sich Rotz und Tränen