Kaltfront. Manfred Koch

Kaltfront - Manfred Koch


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großen Bruder im Stich gelassen fühlt. Die das wahnsinnig toll findet, was er da tut, und die ganz spontan das Angebot macht, ihm zu helfen, diese andere Roswitha zu finden. Ein Angebot, das er sofort annimmt, ohne viel zu fragen. Weil er Witta, wie sie sich nennt, blind vertraut. Sie sogar ausgesprochen nett findet mit ihren Dreadlocks, diesen braunen Rastazöpfen mit den eingeflochtenen bunten Glasperlenketten, und mit ihrem hübschen Gesicht, vor allem aber wegen ihrer immer neuen Ideen, an welchen Orten sich Roswitha aufhalten könnte.

      Und so reisen sie gemeinsam kreuz und quer durch Europa, immer mit dem Flugzeug, immer in den besten Hotels, Geld genug hat er ja. Ziehen durch die Straßen und sprühen Roswitha-Graffitis an die Hauswände. In Lissabon, in Madrid, in Amsterdam, in London, in Rom, auf Ibiza. Drei Jahre lang. Ohne Erfolg, ohne die geringste Spur von Roswitha. Drei Jahre, in denen er jedes Mal gebannt an Wittas Lippen hängt, wenn sie dafür eine Erklärung parat hat. Wenn sie von Verschwörungen und Geheimgesellschaften spricht, von im Verborgenen wirkenden Organisationen, von den wirklich Mächtigen, die alles auf der Welt in ihren Händen haben, Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Waffen, Geld und vor allem natürlich Menschen, die sie nach Gutdünken entführen, verschwinden lassen, für ihre Zwecke benutzen und irgendwann wieder auftauchen lassen, manche nach ein paar Tagen, manche erst nach Monaten oder Jahren, manche nie. Geschichten, die ihm bestätigen, was er schon lang geahnt, gewusst hat. Drei Jahre, in denen sie ihn immer wieder aufbaut und tröstet und in die Arme nimmt, und manchmal kramt sie einen kleinen Lederbeutel mit Hasch aus ihrem Rucksack und dreht sich einen Joint und lässt auch ihn dran ziehen, und das findet er irgendwie aufregend und beruhigend zugleich, und dann schläft sie mit ihm. Und es ist einfach phantastisch, wirklich traumhaft ist es, wenn sie miteinander schlafen und er dabei Roswithas Namen seufzen, flüstern, schreien kann, und dafür liebt er Witta fast ein bisschen.

      Mein Bruder, der Irre. Der Irre, der sich von einem raffinierten Späthippiegirl um den Finger wickeln lässt. Der nicht merkt, dass er der Lady bloß einen langen, komfortablen Europatrip bezahlt. Der ihr auch noch jedes Mal bereitwillig Geld gibt, wenn sie behauptet, sie könne an einen todsicheren Hinweis auf Roswithas Aufenthaltsort herankommen, aber für diese Information müsse sie leider ziemlich viel bezahlen, und der dann jede Geschichte glaubt, die sie natürlich prompt in die nächste teure Metropole oder auf die nächste angesagte Ferieninsel führt.

      Der Irre, der nichts begreift. Auch zuletzt nicht, als im Flughafen von Palma plötzlich die Handschellen klicken, weil der Spürhund bei seinem Rucksack angeschlagen hat, in dem man, leider nicht gut genug in zwei leeren Spraydosen versteckt, Cannabis und einen Haufen hübscher, bunter Designerdrogen findet. Der keine Ahnung hat, wie das Zeug in seinen Rucksack gekommen ist. Der sich hilfesuchend nach Witta umblickt, aber die ist auf einmal nirgends zu sehen, in der ganzen Abfertigungshalle weit und breit keine fröhlichen Rastalöckchen. Ein Irrer, einfach ein Irrer, der selbstverständlich sofort davon überzeugt ist, Opfer einer Verschwörung zu sein, irgendwelcher Leute, die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass Roswitha entdeckt wird, und die deshalb dafür sorgen, dass sich seine kleine Freundin buchstäblich in nichts auflöst, als hätte es sie nie gegeben, und dass er für zwei Monate in ein spanisches Gefängnis kommt und danach sofort nach Österreich abgeschoben wird.

      Dumm gelaufen für Thomas. Gründlich schiefgegangen die Variante Brüderchen und Schwesterchen, kleiner Bruder, große Schwester. Oder war es die Ödipus-Version?

      Trotzdem war es gut, dass ich Thomas dazu gebracht hatte, eine Zeit lang aus unserer Wohnung und aus meinem Leben zu verschwinden. Ich wäre sonst mit Sicherheit wahnsinnig geworden. Und früher oder später hätten wir uns vermutlich gegenseitig die Schädel eingeschlagen. Vor allem aber hätte ich Claudia nie kennengelernt. Claudia, mit der ich ein paar richtig gute Jahre hatte. Ganz großartige Jahre sogar, bevor die Scheiße auf einmal gewaltig zu dampfen anfing. Genau genommen die besten Jahre meines Lebens.

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