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schlafen. Damit verbrachte ich den Rest des Tages. Am Abend meldete sich dann endlich mein Verstand wieder zurück. Gerade rechtzeitig, denn auf einmal stand Thomas neben meinem Bett und sagte: „Nur damit du es weißt: Ich schmeiß’ die Schule.“
„Du spinnst wohl“, sagte ich. „Das ist nicht dein Ernst.“
„Hat doch alles keinen Sinn“, sagte er. „Ohne Roswitha.“
„Was hat denn Roswitha mit der Schule zu tun“, fragte ich.
„Darum geht’s nicht.“
„Um was dann?“
„Dass man mir immer alles kaputt macht. Alles, was gut ist. Alles nimmt man mir weg.“
„Was zum Beispiel?“
„Roswitha“, flüsterte Thomas. „Die hat uns doch irgend so ein Arsch weggenommen, oder?“
„Weggenommen?“
„Ja, ausgespannt, überredet, uns zu verlassen, obwohl sie uns liebt, was weiß ich. Nur um zu zeigen, wer der Stärkere ist. Der Größere. Ich kenn’ das.“
Das hatte mir gerade noch gefehlt. Zuerst der Irrsinn mit Roswitha, und jetzt bildete sich Thomas auch noch ein, irgendein Typ sei schuld an ihrem Verschwinden. Irgendein bösartiger Unmensch, der ihm damit persönlich Schaden zufügen wollte.
Was hätte ich tun sollen? Thomas die Wahrheit sagen? Ihm den Zettel zu lesen geben, der noch immer in meiner Hosentasche steckte? Seine Illusionen in Bezug auf Roswitha brutal zerstören? Oder lügen, um ihn wenigstens davon abzubringen, sich seine Zukunft zu versauen, wenn er ein Jahr vor der Reifeprüfung die Schule abbrach? Vernünftig oder richtig?
„Red’ keinen Schwachsinn“, sagte ich. „Roswitha ist nicht weg. Sie musste bloß ganz überraschend zu ihrer Familie. Ihr Vater liegt im Sterben.“
Thomas sah mich ungläubig an. „Und warum hat sie dann ihre ganzen Sachen mitgenommen?“
„Weil sie nicht weiß, wie lang sie bleiben muss, ist doch klar. Aber in ein paar Wochen ist sie wieder da.“
„Sicher?“
„Ganz sicher, Tommi. Verlass dich drauf.“
„Okay“, sagte Thomas. „Okay. Wenn du das sagst …“
Weiß der Teufel, wieso, aber Thomas glaubte mir wieder jedes Wort, vertraute mir blind. Ich belog ihn ein ganzes Jahr lang. Behauptete immer wieder, Roswitha habe angerufen und freue sich schon darauf, bald wieder bei uns zu sein. Erfand ständig neue Familientragödien, Krankheiten und Unfälle, die Roswithas Rückkehr verzögerten. Und ich machte erst damit Schluss, als Thomas alle Prüfungen geschafft hatte, zwar nur mit Ach und Krach, aber immerhin. Da erzählte ich ihm dann, dass Roswitha und ich vereinbart hätten, ihn mit ihrer Rückkehr zu überraschen. Und darum sei sie vor zwei Tagen in den Nachtzug nach Salzburg gestiegen, doch als ich am Bahnsteig gestanden sei, um sie abzuholen, hätte ich mir vergeblich nach ihr die Augen ausgeschaut. Roswitha sei einfach nicht dagewesen, sei nie in Salzburg angekommen, niemand wisse, wo sie sein könnte, es sei unerklärlich, aber sie sei verschwunden, keine Spur, kein Kontakt, kein Lebenszeichen, unauffindbar, einfach verloren gegangen.
Natürlich war das eine haarsträubende Geschichte, aber eine bessere war mir nicht eingefallen. Irgendwie musste ich Roswitha endlich loswerden, und zwar endgültig. Und weil ich Thomas nach der Tragödie mit unseren Eltern nicht auch noch eine tote Roswitha zumuten wollte, schien es mir die beste Lösung zu sein, Roswitha einfach verschwinden zu lassen.
Wieder verzog sich Thomas in sein Zimmer, wieder dröhnten die Bässe. Aber diesmal höchstens eine halbe Stunde lang. Auf einmal stand er vor mir und schrie: „Niemand nimmt mir Roswitha weg! Nicht Roswitha! Hörst du? Nicht Roswitha!“ Dabei wirkte er verzweifelt und gleichzeitig zu allem entschlossen.
Um den Schein zu wahren, spielte auch ich den Verzweifelten, Wütenden, Ratlosen. Das fiel mir leicht, ich musste mich dafür nur an den Zustand erinnern, in dem ich tatsächlich in der Nacht gewesen war, nachdem mich Roswitha verlassen hatte. Es dauerte nicht lang, bis Thomas mit völlig abstrusen Entführungstheorien ankam (jeden Tag eine neue, was ihn zum Glück davon abhielt, tatsächlich etwas zu unternehmen und nach Roswitha zu suchen, und irgendwann hörte er ganz von selber wieder damit auf). Und natürlich hütete ich mich, ihm zu widersprechen. Hauptsache, ich war aus der ganzen Sache endlich heraus.
Das alles habe ich Claudia erzählt, weil ich hoffte, dadurch würde sie wenigstens ein bisschen verstehen, was meinen Bruder zu dem Menschen gemacht hatte, der in ihren Augen nichts als ein Freak war, ein Spinner, ein Versager, ein Schmarotzer und der deshalb in unserer Galerie nichts verloren hatte. Dass sie ihn anders sehen, ihn milder beurteilen würde, wenn ich ihr erklärte, wie alles angefangen hatte.
Doch Claudia blieb bei ihrer ablehnenden Haltung. „Andere Kinder verlieren auch ihre Eltern und bleiben trotzdem normal“, sagte sie. „Andere Kleinwüchsige entwickeln gerade deshalb ein besonders ausgeprägtes Selbstbewusstsein, statt ihr Leben lang den hilfsbedürftigen kleinen Bruder zu spielen oder sich in eine Märchenwelt aus Gut und Böse zu flüchten. Und wenn alle Menschen auf ihre hoffnungslose erste Liebe fixiert bleiben würden, die ihnen in ihrer Pubertät feuchte Träume beschert hat, dann wäre die Menschheit schon ausgestorben. Thomas muss endlich erwachsen werden und allein klarkommen. Euer Großer-Bruder-Kleiner-Bruder-Spiel ist absolute Scheiße, sag ich dir!“
Aber irgendwann gab sie auf und sagte gar nichts mehr.
Lang, viel zu lang, wollte ich einfach nicht wahrhaben, dass Claudia Recht hatte. Wäre ich auch einer von denen, die davon überzeugt sind, dass sich die Welt nur um sie dreht, würde ich jetzt behaupten: Das Universum hat sich ganz gewaltig angestrengt, um mich endlich zur Einsicht zu zwingen. Immerhin hat es dafür auf einen Schlag Tanjas Selbstmordversuch, die arktische Kaltfront und das nächtliche Eis-Chaos auf den Straßen aufgeboten, die mich zuerst ins Schleudern, danach in die Notaufnahme, dann auf den Operationstisch und schließlich ins Krankenbett in der Unfallchirurgie gebracht hatten. Das Bett, an dem nun schon wieder mein Bruder saß und auf mich einredete, sein Gesicht ganz nah an meinem, so dass ich seinen Atem riechen musste, einen scharfen, säuerlichen, weingeschwängerten Gestank, der jedes Wort begleitete, während er mir mit weinerlicher Stimme die Ohren volljammerte wie ein kleines Kind. Mama Mama Mama.
Hört das denn niemals auf, dachte ich. Bin ich dazu verdammt, für den Rest meines Lebens in einem Krankenzimmer zu liegen, mit einer pochenden, brennenden Naht auf meiner Stirn, mit einem Kopfverband, der meine Augen fast zur Gänze bedeckt, mit Menschen, die mich „Eispatient zweihundertvier“ nennen und das wohl für einen guten Witz halten, und mit der nervtötenden Stimme meines Bruders? Meines Bruders, dem es völlig gleichgültig zu sein scheint, wie ich mich fühle, und der pausenlos nur über sich und Tanja redet und über das Schwein, das ihr Leben zerstört hat, die Sau, die schuld ist an Tanjas Depressionen und daran, dass sie sich umbringen wollte.
In einem fort die gleiche Leier, die gleiche Geschichte, immer und immer wieder. Wie es ihn wie der Blitz getroffen hatte, als er Tanja in der Galerie zum ersten Mal sah. Wie glücklich sie waren bis zu dieser Nacht zwei Wochen nach ihrer Hochzeit. Wie großartig ihr Leben war bis zu dieser Nacht – dieser schicksalhaften Nacht, in der Tanja nicht nachhause kam. Wie schrecklich sie aussah, als sie am frühen Morgen endlich wieder auftauchte. Wie verändert sie war, wie verstört, wie verletzt. Wie beharrlich sie sich weigerte zu erzählen, was passiert sei. Wie sie sich ihm auf einmal jedes Mal entzog, wenn er sie in die Arme nehmen wollte, und immer stiller wurde, immer abweisender, immer fremder, immer kälter. Wie sie sich völlig in sich verkroch, mit allen anderen Menschen nichts mehr zu tun haben wollte und jeden Kontakt zu ihnen abbrach. Wie sie langsam in eine tiefe Traurigkeit fiel, eine stumme, lähmende Verzweiflung. Und wie er Tanja schließlich doch überredete, zu einem Arzt zu gehen, der aber auch keinen anderen Rat wusste, als ihr Tabletten zu verschreiben, haufenweise Tabletten, die sie wahllos schluckte, um Ruhe zu finden. Und nun sogar, um sich umzubringen.
Und dann, wie das Amen im Gebet, die große Schuldzuweisung, das unausweichliche Lamento über das Böse, das wieder zugeschlagen hat, die Geschichte über das Dreckschwein, das für dieses