Kaltfront. Manfred Koch

Kaltfront - Manfred Koch


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bisher gesetzt hatte. Alles bestens, dachte ich.

      Wie hätte ich wissen können, dass Thomas zu diesem Zeitpunkt längst begonnen hatte, in seine persönliche Hölle abzudriften?

      Ich hatte ja auch kein Problem damit, wie er sich verhielt. Dass er sich geweigert hatte, zum Begräbnis mitzukommen. Dass er oft stundenlang in seinem Zimmer saß und nur stumm vor sich hinstarrte, bis er plötzlich aufsprang, durch die Wohnung rannte und wütend gegen Türen und Möbel trat, als hätten sie ihm etwas getan. Selbst als ich entdeckte, dass er aus unseren Fotoalben alle Bilder, die ihn zusammen mit unseren Eltern zeigten, herausgerissen und in kleine Stücke zerfetzt hatte, selbst da machte ich mir keine großen Gedanken. Ich hielt das einfach für seine verzweifelte und unbeholfene Art, mit dem Tod von Vater und Mutter fertig zu werden.

      Ein paar seiner Aktionen waren natürlich schon extrem. Einmal hatte er sämtliche Kleidungsstücke unserer Eltern auf der Terrasse auf einen Haufen geworfen, und ich konnte ihn nur davon abhalten, sie anzuzünden, indem ich ihm versprach, ich würde sie demnächst von der Altkleidersammlung abholen lassen. Ein anderes Mal ertappte ich ihn dabei, wie er mit einem Küchenmesser auf einen Hinterreifen von Vaters Cabrio einstach. Und er hört erst damit auf, als ich erklärte, dass das jetzt nicht mehr Vaters, sondern mein Auto sei.

      Aber was hätte ich tun sollen? Ihm Vorwürfe machen? Im Grunde tat mir Thomas nur leid. Und ich meinte sogar zu verstehen, dass er auf seinen Verlust wohl nicht anders reagieren konnte als mit Aggression. Irgendwann würde er sich schon wieder beruhigen, dachte ich. Ein Dreizehnjähriger braucht eben mehr Zeit, um damit klarzukommen, was geschehen ist. Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich die Situation völlig falsch eingeschätzt hatte.

      Heute weiß ich, es hatte einen Moment gegeben, in dem ich durchaus hätte erkennen können, was in Thomas wirklich vorging. Einen Augenblick, in dem ich anders reagieren hätte müssen als mit meinem verständnisvollen Lächeln, hinter dem ich mich damals aus Unfähigkeit und Bequemlichkeit verschanzt hatte. Meinem blöden, brüderlich solidarischen Grinsen, das Thomas immer nur als Zeichen meiner Zustimmung interpretiert hatte.

      Wir saßen im Auto. Ich brachte Thomas zur Schule und wir waren spät dran. Verkehrsstau, ständig rote Ampeln. Ich war genervt und hatte einfach keinen Kopf dafür, was Thomas vor sich hinmurmelte. Irgendwas über einen Lehrer, der ihn hassen und deshalb immer viel zu streng prüfen würde. Die übliche faule Schülerausrede, die ich schon aus meiner eigenen Schulzeit kannte. Doch im gleichen Atemzug fügte er dann hinzu, dass er sich ohnehin schon längst daran gewöhnt hätte, gehasst zu werden.

      „Ma und Pa haben mich auch gehasst“, sagte er.

      „Du spinnst“, sagte ich.

      „Ich war nur eine Belastung für sie“, fuhr er fort. „ Eine außergewöhnliche Belastung, weil ich nicht so bin, wie sie es sich gewünscht haben.“

      Ein Radfahrer zwängte sich vor mein Auto.

      „Verzieh dich, du Arschloch!“

      „Ich weiß genau, dass sie mich so genannt haben.“

      „Jetzt fahr endlich, Idiot!“

      „Unsere kleine außergewöhnliche Belastung. Unser Minuswachstum. Und dann haben sie gelacht.“

      „Soll ich dich über die Kreuzung tragen, oder was?“

      „Ich war für sie einfach eine Enttäuschung. Und deshalb haben sie mich gehasst.“

      „Du spinnst wirklich“, wiederholte ich. „Unsere Eltern haben dich geliebt!“

      „Und warum sind sie dann abgehauen?“

      „Abgehauen?“

      „Ja, abgehauen.“

      „Sie sind nicht abgehauen, Tommi. Sie sind tot. Es war ein Unfall. Ein ganz, ganz schrecklicher Unfall.“

      Thomas schüttelte den Kopf.

      „Abgehauen, einfach abgehauen sind sie. Damit sie mich los sind. Weil sie mich gehasst haben.“

      „In Ordnung. Wenn du ohnehin alles besser weißt.“

      Ich musste scharf bremsen, ein Taxi hatte mir die Vorfahrt genommen.

      „Sind denn heute nur Volltrottel unterwegs?“

      Thomas öffnete die Tür und stieg aus.

      „Ich glaub, zu Fuß bin ich schneller. Also dann.“

      Ich winkte ihm zu und lächelte wie üblich.

      „Alles klar, Tommi. Und lass dich nicht unterkriegen von den bösen Menschen. Am besten, du hasst sie auch!“

      Das sollte ein Scherz sein. So, wie es natürlich auch immer nur ein Scherz gewesen war, wenn unsere Eltern den Nachzügler, das Kind, das sie noch im reiferen Alter völlig unerwartet bekommen hatten, überglücklich mit Bezeichnungen aus ihrem Finanzberatungsfachchinesisch bedachten. Als überraschenden Bilanzgewinn oder kleine Extradividende. Und in letzter Zeit eben manchmal auch besorgt als außergewöhnliche Belastung oder Minuswachstum. Wie hätten sie auch nur ahnen können, was sie damit in Thomas auslösten, der diese Worte nicht so verstand, wie sie gemeint waren, nämlich einfach als Kosenamen, vielleicht unüblich und unpassend, doch deshalb nicht weniger liebevoll und zärtlich.

      Aber Thomas redete nie mehr über dieses Thema, und so sah auch ich keine Veranlassung, es jemals wieder zur Sprache zu bringen.

      Um ehrlich zu sein, ich tat auch sonst kaum etwas von dem, was man von mir in meiner neuen Rolle als Elternersatz vermutlich erwartet hatte. Einfach ausgedrückt, beschränkte ich meine Sorgepflicht darauf, dafür zu sorgen, dass immer genügend Fertigpizza und Cola im Kühlschrank war. Und dass Thomas morgens rechtzeitig aufstand und zur Schule ging. Alles andere regelte ich mit großzügig bemessenem Taschengeld. Das war’s. Und das schien auch prima zu passen.

      Wer wollte mir daraus einen Strick drehen? Bitte, ich war damals gerade einmal dreiundzwanzig! Da interessierte mich das Seelenleben eines kleinen Spinners herzlich wenig. Solange er mir damit nicht auf die Nerven ging, sollte er doch denken, was er wollte.

      Thomas machte auch keinen Ärger mehr. Gut, in der Schule gab es einmal ein Problem, weil er sich geweigert hatte, in einem Aufsatz den Beruf seiner Eltern zu beschreiben und stattdessen nur ein leeres Blatt abgegeben hatte, auf dem ein einziger Satz stand: Ich hasse meine Eltern. Da wurde ich zum Direktor gebeten, aber nachdem ich erklärt hatte, dass Tomas einfach den Tod unserer Eltern noch nicht verarbeitet habe, war die Geschichte erledigt. Man versprach sogar, Thomas besonders viel Verständnis und Nachsicht entgegenzubringen. So lief dann lange Zeit auch wirklich alles ganz passabel.

      Und dann kam Roswitha. Ungefähr ein Jahr später. Die schöne, wunderbare, eigenwillige, vielleicht ein bisschen verrückte Roswitha. Und mit ihr kam eine Zeit, in der es sogar ganz phantastisch lief.

      Ich hatte Roswitha auf einem Studentenfest kennengelernt. Sie war Südtirolerin, studierte im vierten Semester Kunstgeschichte, und ich verliebte mich sofort in ihr hinreißendes Lachen. Roswitha war das faszinierendste weibliche Wesen, das mir bis dahin in meinem Leben begegnet war. Spontan, herzlich, gescheit, impulsiv. Einfach irgendwie anders. Und nicht nur wegen ihrer dunklen, feurigen Augen und ihrer unglaublich roten, unglaublich langen, unglaublich gelockten Haarpracht eine Frau, die man nur als Superweib bezeichnen konnte. Ein echter Glücksfall, dass auch sie sich sofort in mich verliebt hatte, wie sie mir schon nach ein paar Tagen gestand.

      Wir waren noch keine vier Wochen zusammen, da machte ich ihr schon den Vorschlag, zusammenzuziehen. Ohne lang zu überlegen, sagte sie ja, zog aus ihrem überteuerten WG-Zimmer aus und mit Sack und Pack in meine Wohnung ein. Fairerweise hatte ich sie mit ein paar Andeutungen vor meinem Bruder und seinen möglichen Macken gewarnt, aber das hatte sie nur mit einem Schulterzucken abgetan: „Wer einmal in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, hält alles aus.“

      Meine Sorge war unbegründet. Thomas war von Roswitha begeistert. Vor allem, weil sie mich schon nach wenigen Tagen dazu überredete, die Wohnung komplett neu einzurichten. Mir hatten die pseudobarocken Möbel und die grüngoldenen Biedermeierblümchentapeten


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