Kaltfront. Manfred Koch

Kaltfront - Manfred Koch


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und sie vergewaltigt haben musste. Es konnte gar nicht anders gewesen sein, auch wenn Tanja es stets abstritt, so tat, als sei nichts gewesen, weil offenbar der Schock ihre Erinnerung an die Vergewaltigung durch ein schwarzes Loch ersetzt hatte oder weil sie betäubt worden war oder ganz einfach nur, weil sie sich dafür schämte. Aber die Vergewaltigung war wirklich geschehen und der Dreckskerl existierte, das war ja wohl völlig klar, und jetzt sollte er endlich bezahlen für das, was er Tanja angetan hat.

      „Ich muss dieses Schwein finden, Markus. Unbedingt. Aber allein schaff ich es nicht. Du musst mir helfen. Bitte, hilf mir, Markus. Bitte, hilf mir. Sag, dass du mir hilfst.“

      Ich sagte nichts.

      Großer Bruder, kleiner Bruder, was für ein Scheißspiel, dachte ich, Scheißspiel Nummer eins. Böser Unbekannter, der schuld am Unglück ist, weil immer irgendwer am Unglück schuld sein muss, Scheißspiel Nummer zwei. Mein halbes Leben habe ich mitgespielt, Tommi, aber nun reicht es. Ein ganzes Jahr lang habe ich für dich eine Roswitha am Leben erhalten, die es zu dieser Zeit in Wirklichkeit gar nicht mehr gegeben hat. Später habe ich ständig Kunstsammler erfunden, die von deinen Bildern begeistert waren. Aber jetzt auch noch einen Vergewaltiger aus dem Hut zaubern, bloß weil du ihn dir einbildest, einen wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut finden, nur damit du jemanden hast, den du beschuldigen, anzeigen, anspucken, ihm die Autoreifen aufschlitzen oder weiß der Teufel was sonst noch antun kannst, das, mein kleiner Bruder, das ist eindeutig zu viel verlangt. Bei allem Mitgefühl für dich und deine Tanja, da mach ich nicht mit. Und jetzt sei um Himmels Willen endlich still und verschwinde.

      „Halt den Mund“, flüsterte ich. „Lass mich in Ruhe mit deiner Scheiße.“

      Aber Thomas redete und redete, und ich wünschte mir, Claudia wäre hier und würde den jämmerlichen Zwerg am Kragen packen und aus dem Zimmer schmeißen.

      4

      Es gibt da allerdings etwas, das ich Claudia nicht gesagt habe. Ihr nicht, und auch sonst keinem Menschen. Niemand sollte jemals davon wissen, schon gar nicht Thomas. Und auch jetzt bin ich nicht sicher, ob es richtig ist, dass ich es niederschreibe. Ich riskiere es auch nur, weil ich weiß, dass mein Laptop großzügiger ist als die Wirklichkeit, verständnisvoller als jeder menschliche Zuhörer und barmherziger als mein eigenes Gewissen: Er gewährt die Gnade der Löschtaste. Denn wenn ich könnte, würde ich alles sofort ungeschehen machen.

      Aber wie soll man etwas beschreiben, das einem bereits in dem Augenblick, als es passierte, völlig unwirklich vorkam? Das man erst zu realisieren begann, als das Gehirn schon auf Autopilot geschaltet hatte, sich Gedanken und Bilder mit der Wirklichkeit vermischten und daraus eine Geschichte machten, die man irgendwann gelesen oder in einem Film gesehen hatte? Wäre ich damals von der Polizei vernommen worden, stünde dann die Wahrheit im Vernehmungsprotokoll?

      … auf die Frage, ob seine bisherige Schilderung der Ereignisse vollständig sei und der Wahrheit entspräche, erklärte Herr Markus Steinfelder nach langem Zögern, er wolle seine Aussage in einem entscheidenden Punkt korrigieren. Bis jetzt habe er behauptet, er sei bei seiner stundenlangen Suche nach Roswitha Brunnhofer erfolglos gewesen und habe sie nach ihrem plötzlichen Verschwinden aus seiner Wohnung nicht mehr gesehen. Nun aber müsse er zugeben, dass diese Behauptung eine Lüge gewesen sei. In Wahrheit sei es nämlich in der fraglichen Nacht sehr wohl zu einer letzten Begegnung zwischen ihm und Roswitha Brunnhofer gekommen. Dies sei irgendwann zwischen ein und zwei Uhr früh geschehen, jedenfalls zu einem Zeitpunkt, an dem er nicht mehr damit gerechnet habe. Er sei völlig überrascht gewesen, als er Roswitha Brunnhofer plötzlich am Rudolfskai aus dem Szenelokal Harry’s Pub herauskommen gesehen habe. Sie sei in Begleitung eines ihm unbekannten, etwa gleichaltrigen Mannes gewesen, weswegen er zunächst in einiger Entfernung stehen geblieben sei und die beiden beobachtet habe.

      Nach einigen Minuten sei der Mann wieder ins Lokal gegangen und habe Roswitha Brunnhofer allein gelassen. Diesen Moment habe er nutzen wollen, um sie wegen ihres Verhaltens zur Rede zu stellen. Er sei mit wenigen Schritten bei ihr gewesen, und als sie versucht habe, vor ihm in Harry’s Pub zu flüchten, habe er sie am Arm gepackt und über die Straße zur Mauer an der Salzachböschung gezerrt. Dort sei es ihr gelungen, sich von ihm loszureißen, sie habe ihm wütend ins Gesicht geschlagen und zwischen die Beine getreten, worauf er sie reflexartig zurückgestoßen habe. Dann habe er nur noch einen kurzen Schrei gehört, und sie sei auf einmal nicht mehr da gewesen, einfach verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Es habe einige Augenblicke gedauert, bis ihm bewusst worden sei, was passiert sein musste. Durch seinen Abwehrstoß habe Roswitha Brunnhofer offenbar das Gleichgewicht verloren, sei nach hinten getaumelt, über die an dieser Stelle kaum hüfthohe Mauer gefallen und über die steile, felsige Böschung gut zehn Meter in die Tiefe gestürzt. In der Dunkelheit habe er ihren Körper unten am Flussufer zunächst gar nicht richtig sehen können, und als dann von der verrenkten Gestalt zwischen den Steinen auch kein einziger Laut, kein Hilferuf, kein Stöhnen zu ihm nach oben gedrungen sei, habe nur ein einziger Gedanke schlagartig von ihm Besitz ergriffen, eine Gewissheit, die stärker gewesen sei als der Impuls, zu helfen oder wenigstens Hilfe zu holen, und mächtiger als jede Vernunft: die Überzeugung, dass Roswitha Brunnhofer tot sei und dass er sie umgebracht habe. Daraufhin sei er in Panik weggerannt und habe gehofft, die Polizei würde nie auf seine Spur kommen …

      So oder so ähnlich. Was weiß ich, wie ein richtiges Vernehmungsprotokoll ausschaut, ich habe noch nie eines zu Gesicht bekommen, bin nie von der Polizei befragt, vernommen, verhört worden, musste nie eine Aussage machen, ein Geständnis unterschreiben. Aber darum geht es jetzt auch gar nicht. Die Frage ist, ob es sich wirklich so abgespielt hat. Sind ein paar logisch aneinandergereihte Erinnerungsfetzen schon die ganze Geschichte?

      Habe ich Roswitha tatsächlich über die Mauer gestoßen oder habe ich sie in Wirklichkeit gar nicht berührt und ihr Sturz war nichts als ein schreckliches Unglück? Welche Rolle hat mein Hass auf Roswitha gespielt, in den ich mich während meiner vergeblichen Suche nach ihr hineingesteigert hatte? Hat er mir diese Variante der Geschichte diktiert, weil in meinem Kopf schon die längste Zeit nur ein einziger Satz im Kreis gelaufen war, sich ununterbrochen wiederholt hatte wie ein Mantra: „Wenn ich dich finde, bringe ich dich um!“? Habe ich mich in die Rolle des Mörders versetzt, nur weil ich in dieser Nacht Roswithas Mörder sein wollte? (Aber wenn es bloß eine verheerende Vorstellung war, die nach Entsprechung in der Wirklichkeit verlangte, war ich dann nicht auch nur ein Narr wie mein kleiner Bruder?)

      Meine Überzeugung, Roswitha getötet zu haben, war so groß, dass ich keine Sekunde daran dachte, über die Böschung zu ihr hinunterzuklettern. Vielleicht war sie ja gar nicht tot, sondern nur bewusstlos, und ich hätte sie retten können. Aber dann? Mord, Mordversuch, Totschlag, versuchter Totschlag, schwere Körperverletzung, Unfall mit Todesfolge … mein Autopilot kannte da keinen Unterschied, sondern schaltete augenblicklich auf Flucht.

      Dabei wusste ich nichts, absolut nichts. Die Bilder, die mein Gehirn generierte, hatten ihren Ursprung ausschließlich in zahllosen Fernsehkrimis, die ich gesehen hatte. Bilder von Mordopfern, aus Hochhausfenstern oder von Klippen gestoßen. Nahaufnahmen von Menschen, die aussahen wie zerbrochene Gliederpuppen. Von verzerrten Gesichtern mit vor Entsetzen weit aufgerissenen, toten Augen. Und immer wieder von dunklen Blutlachen, die sich unter zerschmetterten Schädeln ausbreiteten.

      Und genau so sah ich Roswitha vor mir: ein lebloses Porzellangesicht mit Augen aus Glas. Und rund um ihren Kopf, wie ein Strahlenkranz über die Steine am Flussufer ausgebreitet, ihr Haar. Ihre rote Mähne, die immer länger wurde und immer röter. Dunkelrot. Blutrot. Ihre Haare, die in dicken, feuchten Strähnen aus ihrem Hinterkopf hervorquollen und nicht aufhören wollten zu wachsen und sich über den Ufersand, die Kiesel und Felsbrocken zu ergießen. Die Rinnsale bildeten, Bäche, Ströme. Haarströme, Bluthaarströme, Blutströme, mit denen alles Leben aus Roswitha herausfloss, um zwischen Steinen und Grasbüscheln und Dreck zu versickern, zu vertrocknen, zu verschwinden.

      Absoluter Schwachsinn, ich weiß. Aber das ist ja das Problem: Vorstellung schlägt Realität. Und zwar um Längen.

      Ich war so sicher, dass ich Roswitha umgebracht hatte. Deshalb blendete ich völlig aus, was ich tatsächlich wahrgenommen hatte: Roswithas Knie, das sie mir in den


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