Kaltfront. Manfred Koch

Kaltfront - Manfred Koch


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alles. Roswitha hatte die Wohnung verlassen. Roswitha hatte mich verlassen.

      Ich wusste es und wollte es trotzdem nicht glauben. Sie kommt wieder, redete ich mir ein. Sie will bloß ihre alten Sachen loswerden, radikal mit allem aufräumen, was mit ihrem Studentenleben zusammenhängt, sich völlig neu stylen, neue Frisur, neues Outfit, neues Lebensgefühl. Und demnächst wird sie zur Tür hereinkommen, sich vor mir wie ein Model auf dem Laufsteg um die eigene Achse drehen, lachen und rufen: „Na, wie gefällt dir deine neue Roswitha?“ Genau so wird es sein, ganz sicher, so und nicht anders.

      Dann fand ich den Zettel auf meinem Bett. Ein kleines, kariertes, aus einem Notizheft gerissenes Blatt Papier. Und darauf ein paar Zeilen in Roswithas typischer, leicht nach links geneigter Schrift.

       War eine nette Zeit mit dir in deiner tollen Wohnung, Markus. Kein Vergleich mit den Löchern, in denen man sonst so hausen muss, wenn man studiert und wenig Geld hat. Da hat es bei dir schon mehr Spaß gemacht. Und du hast ja auch was davon gehabt, oder? Aber das war’s jetzt. Und ich mach’s lieber schnell und schmerzlos. Nimm es nicht zu schwer. Am besten, du lachst drüber, weil mit Lachen hält man auch die größte Scheiße aus. Mach’s gut und ein schönes Leben noch.

       Ciao, R.

       P.S.: Ich denke, den Schmuck hab ich mir in den vergangenen drei Jahren verdient. Allein schon damit, dass ich Tommi ertragen hab. Aber sag das dem kleinen Spinner lieber nicht, der dreht sonst bestimmt durch.

      Das war alles. Das war Roswithas Abschied. Genau diese Sätze. Ich weiß sie noch heute. Wort für Wort. Solche Sätze vergisst du nicht, wenn du sie hundertmal lesen musst, um sie zu kapieren.

      Es wollte mir einfach nicht in den Kopf. Hatte ich mich so in Roswitha getäuscht? Hatte sie mir jahrelang mit eiskalter Berechnung Liebe vorgespielt? Hatte sie bloß gratis bei mir wohnen wollen und sich von mir aushalten lassen, hatte sie auf meine Kosten ein sorgloses Leben geführt und teure Kunstreisen gemacht und mir dafür ihre Fotze hingehalten? Waren diese Kunstreisen, war das ganze Kunststudium vielleicht sogar nur Show gewesen, nichts als Tarnung, perfekt durchgezogen, und Roswitha hatte sich bloß mit meinem Geld vergnügt? War ich tatsächlich so ein Idiot, der auf eine ganz raffinierte Hure hereingefallen war? Eine Edelhure, die einfach ihr Geschäft erstklassig verstand? War ich ein Volltrottel, dem sie zu guter Letzt auch noch aus seiner Schreibtischschublade die Schatulle mit dem Schmuck seiner Mutter geklaut hatte, das Collier mit dem Schmetterling aus Rubinen und Brillanten, den Ringen mit den Zweikarätern und den Platinarmreifen? War ich wirklich nichts als ein verliebter, blinder Depp gewesen, der jetzt für seine Geilheit bezahlen musste?

      Fuck! Fuck! Fuck!

      Etwas war vollkommen klar: Das war keine spontane, unüberlegte Aktion gewesen, nur so aus irgendeinem plötzlichen Frust heraus. Nein, Roswitha musste das schon lange gut vorbereitet und organisiert haben, anders hätte sie es nicht geschafft, innerhalb weniger Stunden ihr ganzes Zeug zusammenzupacken und damit zu verschwinden. Irgendwer musste ihr dabei geholfen haben, egal, ob es nun der Taxifahrer war oder eine gute Freundin oder ein Freund, von denen ich keine Ahnung hatte. So, wie ich offensichtlich überhaupt nur wenig Ahnung hatte von allem, was Roswitha betraf. Keine Ahnung, wo genau in Südtirol ihre Familie lebte. Keine Ahnung, ob diese Familie vielleicht auch nur erlogen war. Keine Ahnung, wo sich Roswitha aufhalten, keine Ahnung, wen ich nach ihr fragen, keine Ahnung, wo ich nach ihr suchen könnte.

      Und keine Ahnung, wie ich das alles jetzt Thomas beibringen sollte.

      Es war wie vor vier Jahren. Nur dass jetzt die schlechte Nachricht nicht von zwei Polizeibeamten überbracht wurde, sondern bloß auf einem kleinen Notizzettel stand, einem schäbigen Stück Papier, das ich rasch zusammenknüllte und in meine Hosentasche steckte, als ich Thomas nachhause kommen hörte. Und dass Thomas jetzt siebzehn war, ein Siebzehnjähriger, der so aussah, als würde er im Körper eines Elfjährigen stecken. Aber er war eben kein Kind mehr und auch nicht dumm. Er bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, lief durch die Wohnung, sah, dass Roswithas Sachen nicht mehr da waren – und dann reagierte er wie damals: Er blickte mich mit versteinertem Gesicht an, nickte ein paar Mal schweigend, verschwand in sein Zimmer und drehte die Stereoanlage bis zum Anschlag auf.

      Diesmal konnte ich es nicht ertragen. Ich hielt das Stampfen und Dröhnen der Bässe nicht aus. Es war, als würde ein Hammer auf meinen Kopf schlagen. Bam-bam-bam-Arsch-loch-blö-des-bam-bam-bam-Arsch-loch-blö-des-bam-bam-bam … pausenlos, stupid und voll Hohn.

      Ich musste raus aus der Wohnung, nichts wie raus. Rannte ziellos durch die Stadt. Falsch. Nicht ziellos, sondern wie ein Hund, ein Spürhund, ein Jagdhund auf der Fährte eines flüchtenden Tieres. Wieder falsch. Wie ein Jagdhund, der die Fährte verloren hat und jetzt verzweifelt versucht, wieder Witterung aufzunehmen. Ich suchte Roswitha. Etwas sagte mir, dass sie noch in der Stadt sein musste.

      Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wo ich Roswitha finden könnte. Ihre ehemaligen Studienkollegen zuckten bloß ratlos mit den Schultern. In ihrer früheren WG wohnten andere Leute. In der Evidenzstelle der Uni wollte man mir keine Auskunft geben.

      Mein Kopf wusste, dass diese Suche sinnlos war, aber mein Bauchgefühl war stärker und trieb mich durch die Gassen und Lokale der Altstadt. Hetzte mich weiter und weiter mit einer Mischung aus Zorn und Enttäuschung, jagte mich kreuz und quer und im Kreis, immer und immer wieder, stundenlang, bis spät in die Nacht. Dabei war mir nicht einmal klar, was ich eigentlich von Roswitha wollte. Sie zur Rede stellen? Sie anflehen, wieder zu mir zurückzukommen? Ihr meine Wut und meine Verachtung ins Gesicht schleudern?

      Es war lange nach Mitternacht, als ich nachhause kam und in mein Bett kroch, erschöpft und aufgewühlt zugleich. Jetzt war es mein Herz, das Schlagzeug spielte und hart und unerbittlich hämmerte, als schlüge jemand mit der Faust gegen eine Tür, und in meinen Schläfen pochte das Blut: bambam-bambam-du-Arsch-du-Arsch-bambam-bambam-du-Arsch-du-Arsch … Und erst eine Schlaftablette ließ mich in eine bleierne Bewusstlosigkeit fallen.

      Für die Magenschmerzen und das Gefühl der Leere, mit denen ich am späten Vormittag aufwachte, gab es allerdings noch einen ganz anderen Grund: Ich hatte seit bald sechsunddreißig Stunden nichts gegessen. Nicht den kleinsten Bissen hatte ich zu mir genommen, während in der Küche die Delikatessen in den Einkaufstüten vergammelten. Doch schon allein vom Gedanken an Essen wurde mir speiübel. Mein Magen krampfte sich zusammen, und Sekunden später kniete ich vor der Kloschüssel und erbrach einen scharfen, säuerlich riechenden, gelbgrünen Schleim. Immer wieder würgte ich dieses undefinierbare Etwas aus mir heraus, ich konnte kaum mehr atmen, und der Schweiß trat mir aus sämtlichen Poren. Als wollte mich mein Körper mit aller Macht dazu zwingen, alles auszukotzen: den vergangenen Tag, die letzte Nacht, alles, was geschehen war, und vor allem Roswitha. Auskotzen, loswerden und dann nie mehr daran denken müssen!

      Als ob es so leicht wäre, sich von der Scheiße zu trennen, die passiert ist. Sich hinterher den Mund ausspülen, und dann ist alles so, als wäre nichts gewesen – was für ein verführerischer Gedanke. Nur, so funktioniert es nicht. Die Taktik des Körpers, sich zu entgiften, ist nicht die Taktik der Seele, stimmt’s, Frau Doktor Freud?

      (Übrigens, die Übelkeit und die Brechattacken waren damals geradezu harmlos im Vergleich zu heute. Ob das nur an der Chemotherapie liegt? Oder auch daran, dass sich im Lauf meines Lebens noch viel mehr Scheiße angesammelt hat? Nein, jetzt kommt nicht der unsinnige Satz: Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich vieles anders gemacht. Denn das würde ja bedeuten, dass man immer nur vernünftig handelt und nie gedankenlos oder in der Hoffnung, es würde schon gut gehen.)

      Außerdem ist das Vernünftige durchaus nicht automatisch auch das Richtige. Was nicht heißt, dass ich über den Unterschied zwischen vernünftig und richtig nachgedacht hätte, als ich nach meinem Brechanfall schweißgebadet und zittrig in die Küche schlich, um mit einer Tasse Kaffee wenigstens meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Im Gegenteil, ich war überhaupt nicht fähig, über irgendetwas nachzudenken. Deshalb war es mir auch völlig egal, dass Thomas in der Küche saß, obwohl er um diese Zeit eigentlich in der Schule sein sollte. Und es war mir auch egal, dass er mich mit angeekeltem Gesicht betrachtete und sich nach ein paar Minuten mit den Worten: „Entschuldige, aber du stinkst“, in sein Zimmer verzog.


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