Lebe. Deinen. Traum.. Johannes Grassl
von ihm erwarteten. Oder die junge Frau, kreativ und musikalisch, die Betriebswirtschaft studiert, weil das vermeintlich sicherer und zukunftstauglicher ist. Oder der ältere Herr, bereits am Ende seiner braven Beamtenlaufbahn, der sein Leben lang viel lieber unternehmerisch tätig gewesen wäre. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Zu oft beeinflussen falsches Sicherheitsdenken und die Erwartungen anderer unseren Werdegang und halten uns davon ab, einen erfüllenden Platz zu finden, an dem wir wirklich einen Unterschied machen können. Oft sind Lebensläufe aufgrund des familiären Umfeldes, der Erwartungen der Eltern oder anderer wichtiger Bezugspersonen vorgespurt. Allzu außergewöhnliche Zukunftsideen werden uns ausgetrieben, noch bevor wir uns an die Umsetzung machen können. Weil der Weg des geringsten Widerstandes leichter ist und die bequem eingerichtete Komfortzone eine zu hohe Attraktivität ausübt, begraben wir das Potenzial in uns, das nur darauf wartet, gehoben und entwickelt zu werden. Zwar können wir an der erreichten Stelle durchaus funktionieren – Glück, Erfüllung und Wirksamkeit aber sehen anders aus.
Ich denke an eine Postkarte, die ich kürzlich in den Händen hielt. Auf dieser Karte sieht man ein nettes kleines Schaf, das mit einer Mischung aus Vorsicht und Neugierde über den Gartenzaun lugt. Darüber die herausfordernde Überschrift: „Und eines Morgens sagte plötzlich eine Stimme: Spring über den Zaun, sei wild und frech, und lebe gefährlich …“ Wie diesem Schaf oder dem zitierten Löwen im Zoo ist uns in vielen Bereichen unseres Lebens die Wildheit abhandengekommen. Wir leben zu brav, zu stromlinienförmig, zu vorhersehbar. Warum nicht öfters etwas Verrücktes wagen? Warum nicht hin und wieder ein Risiko eingehen?
Umair Haque, einer der aktuell einflussreichsten Management-Vordenker, fordert zu einem Lebens- und Arbeitsstil heraus, der die Grenzen des bisher Vertrauten überschreitet und das persönliche Potenzial stärker berücksichtigt.1 Unsere Art, zu leben, zu arbeiten und unsere Rolle zu spielen, beschert uns zwar materiellen Reichtum, lässt uns aber auf emotionaler Ebene, in Bezug auf Beziehungen und Soziales, physisch und spirituell unerfüllt. Haque plädiert dafür, sich über Folgendes unbedingt klar zu werden: Was ist mein persönliches Potenzial, und wie umfassend, authentisch und intensiv werde ich es im Laufe meines Lebens ausschöpfen? Sein Aufruf: „Erschaffen Sie etwas Gefährliches. Es lohnt sich nicht, nach Mittelmäßigkeit zu streben – sie ist eine einsame Todesfalle, die direkt in das Vergessen führt. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass Sie Ihr Leben nutzen sollten, Ihrer Leidenschaft zu folgen. Nicht halbherzig, zitternd und stockend. Sondern unerbittlich, mit aller Energie. Träumen Sie große Träume, und gehen Sie ein gewaltiges Risiko ein. Setzen Sie Ihr Heim aufs Spiel, bevor es zu einem Einfamilienhaus geworden ist – einem allzu bequemen Ort, wo Sie Ihren Hut an den Nagel hängen und Ihre Beine ausstrecken. Erschaffen Sie etwas Neues: Seien Sie nicht nur Arbeitnehmer, Manager oder ein anderer Typ eines Verwalters der Gegenwart. Seien Sie ein Erbauer, ein Schöpfer und Architekt der Zukunft. Es spielt keine Rolle, ob es eine Sonate, ein Buch, ein Start-up oder ein neuer Frisurenstil ist – erschaffen Sie etwas, das nicht nur fundamental neu ist, sondern auch eine unaufhaltsame Gefahr für die müden, schwerfälligen Beharrungskräfte der Gegenwart … Ziehen Sie Erfüllung und Leidenschaft vor gegenüber Geld und Erfolg. Das Letztere folgt dem Ersten. Ohne Erfüllung und Leidenschaft aber sind Geld und Erfolg schal und leer …“
Wie können wir nun das in uns liegende Potenzial entdecken, und wie sollen wir uns positionieren? Weil jede Person und jedes Leben individuell ist, gibt es keine fertigen Antworten. Aber Orientierungshilfen, anhand derer jeder seinen persönlichen Weg finden und überprüfen kann. Es ist vor allem ein Dreiklang, an dem wir uns orientieren können: Stärken, Vorlieben und Mehrwert. Wenden wir uns zunächst den Stärken und Vorlieben zu. Stärken sind all diejenigen Dinge, die wir besonders gut können und in denen wir besser sind als der Durchschnitt. Unsere Stärken meint unsere Fähigkeiten und Talente. Vorlieben sind die Dinge, die wir gerne tun und die uns Freude machen. Tätigkeiten, bei denen wir die Zeit vergessen. Stärken und Vorlieben können identisch sein, müssen es aber nicht. Manchmal mögen wir bestimmte Dinge, ohne besonders stark darin zu sein. Ich mag es etwa, hin und wieder Fußball zu spielen. Als Stärke würde ich das aber nicht bezeichnen, zum Geldverdienen reicht es jedenfalls nicht aus. Von Albert Einstein ist überliefert, dass er das Violinspiel liebte, allerdings wurde er kein berühmter Geiger, sondern einer der größten Physiker aller Zeiten. Nicht immer also stimmen unsere Stärken mit unseren Vorlieben überein. Jeder von uns aber hat eine Schnittstelle aus beidem. Diese Schnittstelle gilt es zunächst zu entdecken. Folgende Fragen sind dabei hilfreich:
Was kann ich gut?
Was halten andere Leute für meine größten Stärken?
Worin bestätigen mich andere Menschen?
Welche Talente habe ich, die bisher noch nicht entwickelt sind?
Was liebe ich zu tun?
Was macht mir am meisten Spaß?
Wobei vergesse ich die Zeit?
Neben der Selbsteinschätzung ist auch die Fremdwahrnehmung wichtig, wenn wir unsere Stärken definieren wollen. Das heißt, wir beantworten diese Fragen zuerst für uns und suchen dann das Feedback von Menschen in unserem Umfeld. Eine Übereinstimmung von Eigen- und Fremdwahrnehmung gibt uns zusätzliche Bestätigung.
Wenn wir unsere Stärken und Vorlieben definiert und die Schnittstelle bestimmt haben, stellt sich die Frage, wie wir damit einen Mehrwert für andere schaffen können. Welchen Nutzen für andere Menschen kann ich kreieren, indem ich tue, was ich gut kann und was ich liebe zu tun?
Wenn jemand handwerklich begabt ist, dabei technikinteressiert und Spaß an Autos hat, kann er einen Mehrwert für andere Menschen schaffen, indem er als Kfz-Mechaniker arbeitet und die Autos anderer Menschen repariert. Ist jemand kreativ und innovativ und liebt es, unternehmerische Ideen zu entwickeln, wird er in einem trockenen Bürojob auf Dauer wenig glücklich sein, kann aber einen entscheidenden Unterschied machen, wenn er Produkte oder Dienstleistungen entwickelt, die für andere hilfreich sind. Der Verwaltungstyp mit einer Vorliebe für Zahlen und Daten braucht ein entsprechendes berufliches Umfeld, um seine Fähigkeiten wirkungsvoll einsetzen zu können und dabei Freude zu erleben.
Es geht also immer darum, dass unsere Stärken, Vorlieben und ein Mehrwert für andere zusammenkommen. Die Schnittstelle aus diesen drei Bereichen bildet das, was man im Marketing den „Unique Selling Point“ nennt, unser persönliches Alleinstellungsmerkmal. Wenn wir uns in diejenigen Aufgaben und Tätigkeiten investieren, in denen wir gut sind, die wir lieben und aus denen sich ein Nutzen für andere ergibt, verschafft uns das ein hohes Maß an Zufriedenheit.
Der Weg hin zu einem erfüllten Leben beginnt mit einer groben Skizze, einer Ahnung, einem vorsichtigen Tasten in ein neues Land hinein. Die hier skizzierten Stärken und Vorlieben bilden die Leitplanken, innerhalb derer wir uns dabei bewegen. Wir müssen und dürfen verschiedene Dinge probieren. Es ist wie bei der Auswahl von Kleidungsstücken im Geschäft: Im Regal sieht vieles gut aus, aber erst wenn wir die Kleidung tragen, können wir wirklich sagen, ob sie uns steht, zu uns passt und wir uns darin wohlfühlen. Sich bereits früh im Leben und zu Beginn der beruflichen Laufbahn mit diesen Fragen zu beschäftigen ist natürlich hilfreich. Aber auch später, vielleicht in verantwortungsvoller Position oder an dem seit Langem vertrauten Platz, verliert die Thematik nichts an Relevanz. Warum tue ich, was ich tue? Bin ich am richtigen Platz? Was möchte ich durch mein Wirken bewegen, und kann ich das in meiner aktuellen Position? Das sind Fragen, anhand derer wir uns jederzeit und an jedem Ort reflektieren können.
Menschen, die durch ihr Wirken und ihre Innovationen unser Leben geprägt und die Welt verändert haben, waren immer Menschen, die an eine Vision glaubten, sich in ihren Stärken und Vorlieben bewegten, dabei einen Nutzen für Dritte kreierten und in all ihren Prozessen und Herausforderungen nicht aufgaben. Gottlieb Daimler, der Erfinder des Automobils; Steve Jobs, Mitgründer von Apple; Alfred Herrhausen, legendärer Vorstandssprecher der Deutschen Bank – sie und viele andere sind Beispiele dafür. Dabei geht es nicht nur um die wenigen Spitzenführungskräfte und herausragenden Entwickler und Erfinder, sondern quer durch alle Gesellschafts- und Berufsbereiche sind immer diejenigen überdurchschnittlich wirksam und zufrieden, die einer Vision folgen und ihr persönliches Potenzial leben. Dauerhaft