Nachgelassene Schriften / Feindanalysen. Herbert Marcuse
die Tendenz zum Totalitarismus allgemein.7
Die unterschiedlichen Versuche der Institutsmitglieder Franz Neumann, Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Nationalsozialismus zu begreifen, fassen diese Gesellschaft dialektisch als eine Gesellschaft des Übergangs, die noch Kennzeichen des alten Liberalismus, aber auch Anzeichen des Neuen trägt. Die konkrete Wahrnehmung der ungeheuren Verbrechen des Nationalsozialismus verdeckt nicht die Beziehung dieser totalitären Gesellschaft zur modernen gesellschaftlichen Normalität. Manches, was Marcuse über den nationalsozialistischen Alltag sagt, klingt nicht nur wie die Vorwegnahme des »Eindimensionalen Menschen«, sondern sogar als Antizipation von Tendenzen, die erst jetzt Wirklichkeit werden. Ist die repressive Aufhebung von Tabus nicht ein Merkmal der Neuen Welt, in der wir als Zeitgenossen leben? Erscheint das Zerrbild einer befreiten Menschheit, in dem Sex und Kunst zu entgifteten stimuli einer konformistischen Ordnung geworden sind, nicht erst am Ende der Wohlstandsgesellschaft? Erst recht erinnert Marcuses Beschreibung einer Welt, in der die Emanzipation der Ökonomie die der Menschen ersetzt, an die Gegenwart der globalisierten Weltwirtschaft.
Bei Marcuses Arbeiten für das OSS handelt es sich keineswegs um vage Prophezeiungen, die auch gar nicht für eine Flaschenpost gedacht waren. Marcuse hatte noch am 11. November 1941 in einem Brief an Horkheimer8 kundgetan, daß er vom Flaschenpost-Konzept, nämlich einem »eingebildeten Zeugen« ein Zeugnis der Wahrheit zu überliefern, wie es dann in der »Dialektik der Aufklärung«9 heißen sollte, überzeugt war. Die veränderten Umstände verschoben die Akzente – auch bei Marcuse. Zu Beginn der vierziger Jahre glaubte er noch, eine politische Öffentlichkeit in den USA für ein antifaschistisches Engagement empfänglich machen zu können. Zwar scheute er den dienstlichen Charakter der Arbeit beim OSS, aber die praktischen Möglichkeiten, die sich aus seinen »Feindanalysen« ergaben, waren sein ganz persönlicher War Effort. Aus heutiger Sicht wird oft vergessen, daß zwischen der Welt des OSS und der 1947 gegründeten CIA ein radikaler Politikwechsel in den USA liegt, der die ehemaligen Rooseveltmitarbeiter nahezu unter Generalverdacht als Kommunismussympathisanten stellte. Die beiden Geheimdienste haben einen qualitativ völlig unterschiedlichen Charakter. Das Bild von einer konterrevolutionären CIA im Kalten Krieg überlagert das eines antifaschistischen und antimilitaristischen OSS. Der OSS sollte ein Kopf sein, angefüllt mit Wissen über den Feind, vor allem Deutschland und Japan, der die militärisch Handelnden berät. Die Leidenschaft brachten die Emigranten in diesen Dienst ein – eine Leidenschaft, die im beginnenden Kalten Krieg nicht mehr erwünscht war. Am 6. April 1946 berichtete Marcuse aus Washington, D. C., nach Pacific Palisades, daß seine Division kurz vor der Auflösung stünde und er sich mit einem neuen Buch befasse, das um »das Problem der ›ausgebliebenen Revolution‹ zentriert«10 sei. Politisch war Marcuse bei dem Ausgangspunkt angekommen, der ihn zum Kreis um Horkheimer gebracht hatte. Umso mehr suchte er wieder den Kontakt zu denen, die inzwischen an der Pazifikküste die Flaschenpost formuliert hatten.
Wer die »33 Thesen« in diesem Band genau liest, kann hinter allen Fehlprognosen – wie der eines 1947 aktuell bevorstehenden Krieges zwischen den zwei Blöcken und der zu erwartenden Faschisierung des Westens – die analytische Kraft sehen. Ausgehend von der Unmöglichkeit der Revolution werden die jeweiligen Gesellschaftsformationen als alternativlos begriffen. Die integrative Macht des jeweils Bestehenden vernichtet nicht nur die gesellschaftsverändernden Kollektivsubjekte, sondern droht auch der individuellen Subjektivität die Spontaneität und subversive Kraft zu entziehen. In These 13 taucht schon die Idee von Randgruppen auf, deren Leid und Elend die Harmonie der schönen Neuen Welt infrage stellen könnten. Der Theorie fällt die Aufgabe zu, die Unwahrheit des Wirklichen auszusprechen. Marcuse hat Horkheimer diese Thesen nach Pacific Palisades zugeschickt – der versprach im Dezember 1948, gemeinsam mit Adorno als Antwort eine »Art philosophischen Programms«11 Marcuse nach Washington, D. C., zuzusenden. Auch von einem neuen Deutschlandprojekt war in diesem Brief die Rede. Zu beidem ist es nie gekommen. Die Flaschenpost blieb gut verkorkt.
Anmerkungen
Diesen Teil der Geschichte hat als erster Alfons Söllner in »Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland«, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1982, aufgearbeitet. Inzwischen allgemeiner: Barry Katz, Foreign Intelligence Research and Analysis in the OSS, 1942 – 1945, Cambridge, Mass. 1989, Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste 1941 - 1945, Stuttgart 1999, und Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942 – 1949, München 1995.
Vgl. die beiden Standardwerke zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung: Martin Jay, Dialektische Phantasie, Frankfurt 1976, und Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München 1986. Jays noch nahe an den Intentionen Horkheimers orientierte Darstellung gewinnt für den Leser von heute nachträglich im Vergleich zu Wiggershaus’ etwas freihändigen Interpretationen seines an sich großartigen und reichhaltigen Materials an Wert.
Vgl. Detlev Claussen, Spuren der Befreiung – Herbert Marcuse. Ein Materialienbuch zur Einführung in sein politisches Denken, Darmstadt und Neuwied 1981
Nach Söllner, a.a. O., Bd. 2, S. 57.
Max Horkheimer an Salka Viertel, 29. 6. 1940, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1995, S. 726.
Zu Unrecht ist nach seinem Tod Herbert Marcuse als politisch optimistischer Mensch gegen den pessimistischen Theoretiker Adorno ausgespielt worden. Noch in seiner letzten öffentlichen Rede hat er im Mai 1979 in Frankfurt am Main »jede veröffentlichte Erinnerung, die nicht die Erinnerung an Auschwitz festhält« als »Flucht, Ausflucht« bezeichnet.
In Erinnerung an seinen 1954 bei einem Autounfall umgekommenen Freund Franz Neumann nennt Marcuse 1956 die »Erfahrung der faschistischen und nachfaschistischen Ära« eine »Wunde, die niemals heilte« (in: Franz Neumann, Demokratischer und Autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1967, S. 7).
Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 213.
Ebda., Bd. 5, S. 288.
Ebda., Bd. 17, S. 721.
Max Horkheimer an Herbert Marcuse, 29. 12. 1948, in: Gesammelte Schriften, Bd. 17, Frankfurt am Main 1996, S. 1050.
Abbildungen