Hekate. Thomas Lautwein
Personen zu personifizierten Ideen und schließlich zu abstrakten Ideen geworden, denn belebte unbewusste Inhalte erscheinen stets zuerst als nach außen projiziert und werden im Verlauf der geistigen Entwicklung via Raumprojektion vom Bewusstsein allmählich assimiliert und zu bewussten Ideen umgestaltet, wobei letztere ihren ursprünglich autonomen und persönlichen Charakter einbüßen. Einige der alten Götter sind bekanntlich via Astrologie zu bloßen Eigenschaften geworden (martialisch, jovial, saturnin, erotisch, logisch, lunatic usw.). 5
Das Bewusstsein versucht also ständig, die psychischen Teilsysteme zu abstrahieren und zu rationalisieren, um sie beherrschbar zu machen und dem abstrakten Gott des Monotheismus zu unterwerfen. Nach Jungs Ansicht ist es insbesondere dem Christentum nicht gelungen, die die „Götter“ wirklich zu überwinden:
Unsere wahre Religion ist ein Monotheismus des Bewusstseins, eine Bewusstseinsbesessenheit mit fanatischer Leugnung der Existenz von autonomen Teilsystemen. Darin unterscheiden wir uns aber von den buddhistischen Yogalehren, dass wir sogar die Erfahrbarkeit von Teilsystemen leugnen. Darin liegt eine große psychische Gefahr, denn dann verhalten sich die Teilsysteme wie irgendwelche verdrängten Inhalte: sie bringen zwangsläufig falsche Einstellungen hervor, indem das Verdrängte in uneigentlicher Form wiederum im Bewusstsein erscheint. Diese in jedem Neurosenfall in die Augen springende Tatsache gilt auch für die kollektiven psychischen Erscheinungen. Unsere Zeit begeht in dieser Hinsicht einen fatalen Irrtum; sie glaubt nämlich, religiöse Tatsachen intellektuell kritisieren zu können. (…) Man vergisst dabei völlig, dass der Grund, warum die Menschheit an den ‚Daimon’ glaubt, gar nicht mit irgend etwas Äußerem zu tun hat, sondern einfach auf der naiven Wahrnehmung der gewaltigen, inneren Wirkung autonomer Teilsysteme beruht.6
Eine bloße Leugnung der psychischen Teilsysteme führt dazu, dass sie unbewusst nach außen projiziert werden. Im christlichen Bezugssystem werden sie dann als „Satan“ oder „Dämonen“ bezeichnet und mit großem Aufwand exorziert, ohne doch jemals völlig besiegt zu werden. In anderen Ideologien kann eine beliebige Gruppe als Projektionsfläche gewählt werden (Juden, Freimaurer, Illuminaten, Aliens), deren „bösem Willen“ eine weltweite Verschwörung unterstellt wird – kurz, es kommt zu kollektiver Wahnbildung, und destruktiven Massenpsychosen, die durchaus Kriege und Revolutionen auslösen können. Mit Jungs Worten:. „Die Götter sind Krankheiten geworden.“7
Ein Aspekt des kollketiven Unbewussten ist die Anima, das Ur-Weibliche:
Die tiefere Introspektion oder die ekstatische Erfahrung enthüllt die Existenz einer weiblichen Figur im Unbewussten, daher die weibliche Namengebung Anima, Psyche, Seele. Man kann die Anima auch definieren als Imago oder Archetypus oder Niederschlag aller Erfahrungen des Mannes am Weibe. Darum ist das Animabild auch in der Regel in die Frau projiziert.8
Nach Jungs Auffassung nimmt die Anima für jeden Mann eine besondere Gestalt an, so wie umgekehrt jede Frau einen Animus in sich trägt. Können Animus und Anima nicht richtig integriert werden, weil die herrschende Religion etwa bestimmte Aspekte von Weiblichkeit unterdrückt und tabuisiert, werden begreiflicherweise Anima-Projektionen entstehen, die angstbesetzt, aber auch gleichzeitig faszinierend sind. So wird etwa in der Offenbarung des Johannes von der reinen, keuschen Muttergöttin Maria die scharlachrote „Hure Babylon“ abgespalten. Auch Göttinnen wie Venus, Hekate und Diana wurden in den Untergrund abgedrängt, wo sie, wie wir wissen, dort das ganze Mittelalter über rumorten.
Da das Christentum unfähig ist, die archetypischen Bilder zu integrieren, prophezeite Jung 1928 ein Zunehmen von individuellen Symbolbildungen:
Diese seit uralters bestehende Symbolfunktion ist auch heute noch vorhanden, obschon die Entwicklung des Geistes seit vielen Jahrhunderten danach strebte, die individuelle Symbolbildung zu unterdrücken. (…) Die christliche Epoche hat bekanntlich Außerordentliches geleistet in der Unterdrückung der individuellen Symbolbildung. In dem Maße, als die Intensität der christlichen Idee abzublassen beginnt, darf man auch ein Wiederaufflackern der individuellen Symbolbildung erwarten. Die geradezu ungeheure Sektenvermehrung seit dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der ‚Aufklärung’, dürfte ein entsprechendes Zeugnis dafür sein.9
Inzwischen sind 80 Jahre vergangen, und rückblickend darf man wohl sagen, dass Jungs Prophezeiung sich erfüllt hat, obwohl Jung die Entstehung der modernen Hexenbewegung nach dem 2. Weltkrieg, den Zen- und Yoga-Boom seit den 1960er Jahren und die kommerzialisierte Vulgäresoterik der letzten vier Jahrzehnte nicht voraussehen konnte. Die Religionssoziologie spricht heute abschätzig von einer „Patchwork-Spiritualität“, um das zu bezeichnen, was Jung „individuelle Symbolbildung“ nannte. Der Begriff „patchwork“ suggeriert dabei, dass heterogene Elemente wahllos zusammengeklaubt werden, was bei manchen Zeitgenossen sicherlich der Fall sein mag. Es sollte jedoch nicht unterschätzt werden, dass in vielen Fällen tatsächlich eine Wiederentdeckung bislang verschütteter und unterdrückter Symbole stattfindet, was sich dann eben in dem Gefühl äußert, von „Göttern“ ergriffen zu werden und natürlich eine hochemotionale Angelegenheit ist.
Exkurs zum buddhistischen Weltbild
Jung meint, der Buddhismus habe bei dem Umgang mit Teilsystemen einen Vorteil. Damit hat er durchaus Recht, da der Buddhismus nicht denselben Zwängen unterliegt wie monotheistische Religionen.
Nach buddhistischer Auffassung existieren Götter real als Wesen in Samsara; ihre Existenz ist, wie bei allen Lebewesen, bedingt durch Karma. Ein Dasein als Gott ist das Resultat positiven Handelns und Denkens, das jedoch immer noch durch die grundlegende Unwissenheit über die wahre Natur der Realität getrübt ist. Großherzigkeit und meditative Versenkung sind karmische Ursachen, um ein Gott zu werden; da diese Zustände auch für Menschen erfahrbar sind, kann es Kontakte zwischen Menschen und Göttern geben. Wir alle sind schon einmal Götter gewesen, die jetzigen Götter werden im Kreislauf von Samsara eines Tages auch wieder als Menschen geboren werden.
Die buddhistische Welt gliedert sich in drei Bereiche: einen grobstofflichen, der von groben Leidenschaften regiert wird, einen feinstofflichen und einen unstofflichen (kamadhatu, rupadhatua, arupadhatu). Die uns begegnenden Götter gehören meistens wie wir zum Begierdebereich und sind daher recht menschenähnlich, schwerer ist es schon, zu den Welten der reinen Form und der Formlosigkeit vorzudringen (letztere lässt sich beispielsweise erreichen, wenn man sehr lange nur über den leeren Raum oder die Unendlichkeit des Bewusstseins meditiert).
Kurz: Götter sind im Buddhismus nicht absolut, sonder relativ, nicht noumena, sonder phainomena. Einige Götter haben sich vom Buddha belehren lassen und sind auf dem Weg zum Erwachen (wie die vier großen Könige der Weltrichtungen), daher können Götter auch als Sangha und verehrungswürdig betrachtet werden. Ebenso ist es möglich, dass ein Mensch vor dem Erlangen des Pari-Nirwana noch einmal in einem Götterbereich wiedergeboren wird, dort letzte subtilste Hindernisse bereinigt, bevor er Erleuchtung erlangt. Diese Möglichkeit gilt im „kleinen Fahrzeug“ etwa für den „Nicht-Wiederkehrer“, der die Arhatschaft erst in einer Götterexistenz erlangt. Dieser Gedanke wurde im „großen Fahrzeug“ mit besonderer Vorliebe ausgebaut, so befinden sich die meisten großen Bodhisattvas ab der ersten Bhumi (Erde) in Götterbereichen, die von ihnen zu „reinen Bereichen“ ausgebaut wurden. So konnte der Buddhismus in Indien die Hindu-Götter ohne größere Probleme in sein Pantheon aufnehmen und sich in Tibet, China und Japan an die dortigen Gegebenheiten anpassen; andererseits konnten die Bodhisattvas des Mahayana die Attribute der Hindu-Gottheiten assimilieren. Im tantrischen Buddhismus verfiel man schließlich gar auf die Idee, dass es zur Erweiterung des Bewusstseins sinnvoll sein könnte, sich selbst meditativ mit einer solchen Bodhisattva-Gottheit zu identifizieren, wobei man sich aber stets der grundsätzlichen Leerheit aller Erscheinungen bewusst bleibt.
Die vier Gesichter der Göttin
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