Hekate. Thomas Lautwein
den sechziger Jahren das Feld der antiken Mythologie, Religion und Magie neu vermessen. Da Hekate nun einmal die Göttin der Hexen und Zauberer ist, rückt auch sie zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Auf der anderen Seite hat die feministische Forschung ein ganz neues Interesse an den Göttinnen erzeugt und einige interessante Erkenntnisse gewonnen, auch wenn Forscherinnen wie Marija Gimbutas oder Gerda Lerner im akademischen Milieu nach wie vor ausgegrenzt werden.
Mein Interesse an dem Thema ist aber kein rein wissenschaftliches. Neben altertumswissenschaftlicher Fachliteratur und antiken Quellen zitiere ich daher auch feministische Literatur „unseriöse“ Autoren aus dem Schattenreich des westlichen Okkultismus (etwa den vielgeschmähten Aleister Crowley), soweit ich das Gefühl habe, dass sie Aspekte beleuchten, die bloße Philologie nicht abdecken kann. Außerdem versucht der zweite Teil dieser Studie, die Gegenwärtigkeit der Göttin aufzuzeigen.
Ich konnte auch nicht davon absehen, dass ich zehn Jahre in einer tibetisch-buddhistischen Tradition verbracht habe und mit dem buddhistischen Tantrismus in Berührung kam, wobei sich mir immer mehr die Frage stellte, ob es das, was im Osten „Tantra“ heißt, nicht auch einmal im Westen gegeben hat und heute wieder geben könnte. Die verborgenen, lange verschüttet gebliebenen Spuren des westlichen Tantrismus ein Stück weit freizulegen und zu der überfälligen Renaissance des Heidentums in Europa meinen bescheidenen Beitrag zu leisten, ist deswegen ebenfalls Ziel dieser Arbeit.
Es steht folglich zu befürchten, dass mein Text heillos zwischen Altertumswissenschaft, Buddhismus und Okkultismus, Tantra, Magie und Altertumswissenschaft oszilliert, und ich selber zwischen allen Stühlen sitze. Aber wer sich im Dämmerlicht des Übergangs auf der Kreuzung zwischen den Wegen herumtreibt, hat vielleicht eine Chance, der Enodia, der Wegegöttin, zu begegnen.
1 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 1932, S. 1316
2 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher, Bd. 3/II, S. 1317.
3 Herbert J. Rose: Griechische Mythologie. Ein Handbuch. München: C. H. Beck 2003, S. 1 - 12.
4 C. G. Jung: Gesammelte Werke, Band XIII, Olten 1978, S. 20 f.
5 Jung: GW XIII, S. 43.
6 Jung, GW XIII, S. 44.
7 Jung, GW XIII, S. 45.
8 Jung, GW XIII, S. 48.
9 C. G. Jung: Über die Energetik der Seele (1928). In: GW, Bd. 8, S. 60.
10 Jutta Voss: Das Schwarzmond-Tabu. Stuttgart 1990, S. 59
11 Ralph Metzner: Der Brunnen der Erinnerung. Von den mythologischen Wurzeln unserer Kultur. Braunschweig 1994, S. 166 - 168.
12 Eine eindrückliche Vision der Todesgöttin findet sich auch in Regine Leisners Roman „Unter dem Rabenmond“ (2008).
13 Dank an Regine Leisner für die Zusammenstellung der Korrespondenzen. Auch Erich Neumann geht in seinem klassischen Werk „Die große Mutter“ von vier Aspekten der Göttin aus. In der neueren feministisch-esoterischen Literatur ist in letzter Zeit ebenfalls eine gewisse Tendenz spürbar, von vier Gesichtern der Göttin zu sprechen, vgl. etwa Elizabeth Davis/Carol Leonard: Im Kreis des Lebens, Engerda 2005.
14 Marija Gimbutas: Die Sprache der Göttin. 4. Aufl., Frankfurt 1998, S. 198.
15 Mahlstedt, S. 77.
16 Mahlstedt, S. 92.
17 Alfred Laumonier: Les cultes indigènes en Carie. Paris 1958, S. 414 f. Meine Übersetzung.
18 Fritz Graf: Gottesnähe und Schadenszauber. München 1996, S. 15.
Teil I
Hekate in archaischer Zeit
Hekate ist geheimnisvoll und unter den antiken Göttinnen eine der vielgestaltigsten (polymorphos). Die Forschung hat sie lange vernachlässigt, da sie in Kunst und Mythos der Antike weniger augenfällig ist als andere Gottheiten. Hinzu kam, dass sie als unheimliche Göttin der Verstorbenen und der Hexerei alle denkbaren Vorurteile gegen „Okkultismus“, Magie und Aberglauben aktiviert. Mit der spätantiken Überlieferung der Zauberhandschriften, Verfluchungstäfelchen und neuplatonischen Theurgie, in denen unsere Göttin eine überragende Stellung erlangt, mochte man sich in der Altertumswissenschaft lange nicht gern beschäftigen, da diese Epoche als dekadente Verfallszeit nicht hoch im Kurs stand. Man überließ diese Zeit, die ja gleichzeitig die Frühzeit des Christentums ist, lieber den Theologen, von denen man keinen unvoreingenommenen Blick auf das antike Heidentum erwarten konnte.
In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch einiges getan. Es sind einige akademische Arbeiten erschienen, die ein differenzierteres Bild der Göttin gezeichnet haben. Hervorzuheben sind die kunstgeschichtliche Monographie von Theodor Kraus (1960), Sarah Johnstons Studie über Hekate und die chaldäischen Orakel (1990), Stephen Ronans Textsammlung von 1992, von Rudloffs Studie (1999), Bergs kommentierte Ausgabe der Proklos-Hymnen (1999), die Wiener Magisterarbeit von Karin Zeleny (1999) und die Monographien von Wolfgang Fauth (2006) und Nina Werth (2007). Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie das herkömmliche Bild der „bösen“ und „dämonischen“ Hekate revidiert haben und stattdessen das Bild einer bipolaren, vermittelnden Wesenheit zeichnen, die Übergänge herstellt und beherrscht: „Sie ist keine ihrem Wesen nach dämonische Gottheit, sondern eine der Grenzbereiche, die damit befasst ist, ihren Verehrer durch gefährliche und unsichere Gebiete des Niemandslandes jenseits des Gewissen und Bekannten zu führen, wie Geburt und Tod und, auf der physikalischen Ebene, Kreuzwege und Türen.“1
Hekates Entwicklung in der Antike lässt sich in drei Phasen gliedern: eine vorklassische, eine klassisch-hellenistische und eine chäldäisch-neuplatonische ab dem 2. Jahrhundert nach Christus. In der ersten Phase ist sie eine kleinasiatische Spielart der Magna Mater (Mêter), die nach und nach in das Pantheon der Griechen integriert wird. Sie trägt ursprünglich eher erdhafte und solare Züge, ihre unheimliche Seite tritt in den ältesten Texten nicht offen zutage. In der Zeit der Klassik und des Hellenismus, also etwa ab dem 5. und 4. Jahrhundert v. Z., steigt sie zur Göttin der Geister, der Magie und der Nacht auf und wird zunehmend mit Artemis-Diana und der Mondgöttin Selene gleichgesetzt. In der dritten Phase, die ab dem 2./3. Jahrhundert nach Chr. anzusetzen ist, wird Hekate bei den Neuplatonikern zur „Göttin Natur“, zur Verkörperung der Weltseele oder des höchsten weiblichen Prinzips, während sie nach wie