Hekate. Thomas Lautwein
über tausend Jahre in der Antike entwickelt hat, will ich im Folgenden aufzeigen. Dabei gehe ich von der Prämisse aus, dass die Göttin in den einzelnen Epochen auf durchaus unterschiedliche Art und Weise erschienen ist, aber im Grunde immer dieselbe blieb. Sie ist die „Vielnamige“ und „Vielgestaltige“ (Polymorphos) mit den tausend Gesichtern und tausend Namen (Isis myriônymos), die sich doch immer gleich bleibt.
Herkunft und Erscheinung
Die Göttin kommt aus dem Osten.2 Ihr Heimatland ist das kleinasiatische Karien, das südlich des Großen Mäanders liegt und ihm Süden an das Ägäische Meer angrenzt. Ins Landesinnere erstreckt sich der Taurus, die Küste ist von vielen tiefen Meeresarmen eingeschnitten. Vor der Küste liegen die Inseln Samos, Rhodos und Kos, bekannte griechische Städte an der Küste waren Milet, Halikarnassos und Knidos. Das benachbarte Phrygien, zu dem auch Troja gehört, ist die Heimat der in orgiastischen Riten gefeierten Muttergottheit Kybele, die seit dem zweiten punischen Krieg auch in Rom von Staats wegen verehrt wurde.
Hekate stammt also aus Kleinasien und ist mit der Magna Mater (meter) verwandt, deren Kult in Anatolien seit der Steinzeit blühte. Ursprünglich hatte sie einen Partner-Gott, der den Namen Hekatos trug. Diese männliche Gottheit wurde schon bald von dem ebenfalls kleinasiatischen Apollon assimiliert, so dass „Hekatos“ zu einem Beinamen des Apollon wurde. Dadurch wurde auch Hekate in die Nähe Apollons gerückt und konnte mit dessen Schwester Artemis (Diana) identifiziert werden, was in der Spätantike auch häufig geschah. Dennoch konnte sich Hekate immer auch als eigenständige Gottheit behaupten und sich über Karien, Thrakien und Thessalien sogar bis nach Athen ausbreiten. Mit Apollon gemeinsam hat sie die Funktion als Hüter der Tore und das Glänzende ihrer Erscheinung, das sich in Beinamen wie epiphanês, epiphanestátê (Leuchtende), megistê (Große) und sôteira (Retterin) ausdrückt.
Bevor wir aber näher auf die frühen griechischen Belege für den Hekate-Kult eingehen, wollen wir ihrer orientalischen Herkunft noch etwas weiter nachgehen. Die kleinasiatische Herkunft der Göttin legt nahe, ähnlich wie bei Aphrodite nach Beziehungen zur hurritischen, hethitischen, mesopotamischen und phönizischen Götterwelt zu forschen.3
Die Bücher des Berliner Hethitologen Volkert Haas liefern hierzu ergiebiges Material.4 Ein erster Hinweis ist die Tatsache, dass es in der hethitischen Kultur eine wichtige Göttin mit dem Namen „Hepat“ (Hebat, Hepit, Khepan) gab, deren Name verdächtig ähnlich klingt. Stutzig macht auch, dass in den spätantiken chaldäischen Orakeln Hekate mit dem syrischen Wettergott Hadad verbunden wird, dessen Partnerin eigentlich die Sonnengöttin Atargatis war. Das Symboltier der Atargatis (und der Hepat!) war der Löwe, der der Hekate allerdings selten zugewiesen wird, jedoch werden beide Göttinnen als „Drachenfrauen“ mit schlangen- oder fischförmigem Unterleib dargestellt und tragen einen leuchtenden Kopfschmuck (polos, seit der Steinzeit ein häufiges Attribut der Erdgöttin).5 Das verbreitete alte Motiv der Göttin als „Herrin der Tiere“ mit zwei Löwen, das wir vor allem von Kybele-Darstellungen her kennen, taucht übrigens auch in der etruskischen Kunst auf, so auf dem Antefix im Kampanischen Provinzmuseum von Capua, das aus dem 6. Jahrhundert v. Z. stammt.6
Hekate scheint, wie aus ihren Attributen erschlossen werden kann, in ihrer frühesten Form eine Erd- und Sonnengöttin gewesen zu sein, und keinesfalls eine Mondgöttin, wie schon der englische Altphilologe Herbert J. Rose 1928 urteilt:
Eine Göttin, die wie Hekate ursprünglich eine Fruchtbarkeitsgöttin war und von der man glaubte, dass sie nachts erscheine, musste früher oder später mit dem Mond in Verbindung gebracht werden. Es wird nicht selten angenommen, dass die drei Gesichter ihrer Kultbilder für ihre drei Erscheinungen stehen, als Selene am Himmel, als Artemis auf der Erde, als Hekate in der Unterwelt. Aber da unsere früheste Quelle weder etwas von ihrer Beziehung zum Mond noch zu den unterirdischen Regionen weiß und es keinen Hinweis dafür gibt, dass Hekate und Artemis ein und dieselbe waren, sie vielmehr deutlich unterschieden sind, haben wir weder das Recht, anzunehmen, dass Hekate ursprünglich Artemis, noch, dass sie eine Mondgöttin war.7
Auch Robert von Rudloff weist in seiner Studie „Hecate in Ancient Greek Religion“ (1999) schlüssig nach, dass Hekate ursprünglich keine Mondgöttin gewesen sein kann.
Doch wie kann eine Erd- gleichzeitig Sonnengöttin sein? Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand, wenn man sich einmal in die Weltanschauung eines archaischen Menschen hineinversetzt: Indem die Erde als Erzeugerin der Sonne gedacht wird, die jeden Abend die Sonne wieder in sich aufnimmt und sie am Morgen neu gebiert. Nach antiker, geozentrischer Vorstellung versinkt die Sonne nämlich abends im Westen und reist während der Nacht unterirdisch in den Osten zurück, um dort ihren Lauf von neuem zu beginnen. Die „Sonne um Mitternacht“ (Apuleius, Met. XI) wäre also die Sonne unter der Erde, die in der Nacht gen Westen geführt wird – und zwar von der großen Erdgöttin, die anfänglich auch eins mit dem Himmel gewesen ist, und erst später vom Himmel getrennt wurde, der dann mit männlichen Gottheiten besetzt wurde. Dabei wurde der Himmel (Uranos) mit der Sonne und dem Symboltier Stier assoziiert, während die Erde (Gaia) mit der unterirdischen Sonne und der Nacht verbunden wurde und das Symboltier Löwe erhielt. Da die Göttin aber nach wie vor der Ursprung von allem war, war sie natürlich auch nach wie vor die große Lichtbringerin, wie es auch die ägyptische Hathor, die keltische Brigid oder die Sternengöttin Nut (Nu, Nuit) sind.
Auch die Ekliptik, d. h. der jährliche Weg der Sonne um die Erde, führt die Sonne im Winterhalbjahr scheinbar unter die Erde. Im ptolemäischen System wird die Entstehung der Jahreszeiten dadurch erklärt, dass die Sonne sich auf ihre Bahn ab März über den Himmelsäquator erhebt und im Juni ihren höchsten Stand erreicht. Im September ist wieder auf die Höhe des Himmelsäquators zurückgekehrt und taucht nun scheinbar nach Süden unter die Erde, wobei sie im Dezember den Tiefststand erreicht und erst im März wieder auf der Höhe des Himmelsäquators ankommt. Die Ekliptik war für die Alten sehr wichtig, da sie Sommer und Winter zu machen schien und wurde nach den dahinterliegenden zwölf Sternbildern eingeteilt, die den Zodiacus von Widder, Stier, Zwillinge usw. bilden. Zusammen mit ihrer täglichen Drehung um die Erde ergibt sich im geozentrischen System ein Spirallauf der Sonne um die Erde, die Sonne beschreibt jeden Tag einen vollen Kreis um die Erde, setzt dabei aber in jedem Halbjahr jeweils ein klein wenig höher bzw. tiefer an.8
Hekate ist unserer Meinung nach also ursprünglich die Göttin der unterirdischen, nächtlichen Sonne. Diese These lässt sich mit Hilfe der hethitischen Überlieferung stützen, der wir uns nun zuwenden wollen.
Kleinasiatische Sonnengöttinnen
Sonnengöttin von Arinna, meine Herrin, aller Länder Königin! Im Hatti-Lande gabst du dir den Namen Sonnengöttin von Arinna, in dem Lande aber, das du zu dem der Zeder machtest, gabst du dir den Namen Hepat!
Die hethitische Königin Puduhepa, um 1250 v. Chr.
Hierzu müssen wir uns etwas näher mit der kleinasiatischen Erdgöttin beschäftigen, die seit dem Neolithikum in Anatolien nachweisbar ist. Die ältesten Funde (Catal-Hüyük und Hacilar) stammen aus dem 7. Jahrtausend v. Z. und zeigen eine Göttin, die thronend, säugend, gebärend oder in sexueller Vereinigung mit einer männlichen Gottheit dargestellt ist. Ob wir diese Kulturen wirklich als „matriarchal“ oder „matrizentrisch“ bezeichnen können, mag zweifelhaft erscheinen, doch können wir sicherlich davon ausgehen, dass die Frauen in diesen frühen Gesellschaften eine relativ starke Stellung hatte und dass die Göttin in dieser Phase als die eine allumfassende Macht gesehen wurde, die Himmel und Erde, Ober- und Unterwelt umfasste, Leben gab und Leben nahm.
Diese machtvolle Erdgöttin,