Hekate. Thomas Lautwein
sondern das gebrochene Griechisch der karischen Söldner, die in ganz Griechenland angeheuert wurden.
Herodot geht jedenfalls davon aus, dass Lyder, Mysier und Karer stammverwandt sind; Strabon (XIV, 2,3) erwähnt überdies, die Einwohner von Kaunus hätten dieselbe Sprache wie die Karer und seien ursprünglich aus Kreta gekommen. Auch wenn die Karer also eine indogermanische Sprache sprachen, hatte ihre Kultur doch mit ziemlicher Sicherheit ein starkes Substrat aus der bronzezeitlichen ägäischen Kultur. In einem Gedicht des Kritias (460 - 403 v. Z.) wird den Karern die Erfindung des Schiffs zugeschrieben, eine Kulturleistung, die sie auf dieselbe Stufe wie die Phönizier stellt:
Der Phoiniker erfand, Stütze des Geistes, die Schrift.
Theben baute zum ersten Male den Wagen - die Karer,
kluge Beherrscher der See, stellten die Lastschiffe her.35
Eine andere Theorie besagt hingegen, dass Hekate ursprünglich eine thrakische Göttin sei, da ihr Kult in Makedonien und Thrakien sehr alt war. Darauf lässt der Paian Pindars für Abdera36 schließen, in dem Hekate der Stadt an Neumond das Schicksal verkündet, sowie eine Stelle bei Pausanias (II,30), der zufolge die Bewohner der Insel Ägina behaupteten, Orpheus habe den Hekate-Kult zu ihnen gebracht. Jedoch wurden dem Orpheus bei den Griechen alle möglichen Kulte zugeschrieben, so dass man diese Aussage nicht überbewerten sollte, auch Nilsson spricht sich gegen den thrakischen Ursprung aus: „Vor allem hat man das Zeugnis der Personennamen übersehen, das unwiderleglich beweist, dass der feste Sitz der Hekate in den kleinasiatischen Städten und auf den Inseln im Südosten zu suchen ist. Von hier stammen fast alle Träger der Namen Hekataios, Hekatomnos usw., die wir kennen.“37
Auf der durch den Mysterienkult der Kabiren berühmten Insel Samothrake hatte sie eine eigene Höhle, in der ihr bei Fackelschein Mysterien gefeiert und Hunde geopfert wurden; Hundeopfer sind auch für Böotien, Kos, Thrakien und Kolophon belegt.38 Von den Griechen wurden sie sogar gelegentlich als „karisches Opfer“ (karikòn thyma) bezeichnet. Vermutlich wurde Hekate auf Samothrake mit einer vorgriechischen Göttin namens Zerynthia gleichgesetzt, die auf samothrakischen Münzen als thronende Göttin mit zwei Löwen dargestellt wird. Der Löwe ist, wie schon Alfred Laumonier zu Recht hervorhebt, auch das Symboltier der hethitischen Hauptgöttin von Yazilikaya, der Atargatis, Kybele, Artemis, Hera, Dea Syriaca, Kirke, Cyrene und Nemea (vgl. Porphyrios, De abstinentia, III, 16 - 17). Auf Münzen aus Stratonikeia wird Hekate mehrfach mit einem Löwen als Reit- oder Begleittier abgebildet.39 Bezeichnenderweise wird Hekate auch öfters als „despoina“ (Herrin) bezeichnet, eine Anrede, die sonst nur orientalischen Göttinnen zuteil wird. In den anderen Regionen Kleinasiens wurde Hekate allem Anschein nach stets mit mächtigen Erdgöttinnen gleichgesetzt: In Kilikien war sie mit Gê (Gaia) identisch, in Phrygien hieß sie Nenena und wurde mit Zeus Brontôn verbunden, in Lykien war sie äquivalent mit Leto, in Pisidien hingegen Partnerin des Sonnengottes Helios, während sie in Chalke und auf Kreta anstelle von Hera an die Seite des Zeus trat. In Kolophon wurde sie mit Kybele geglichen.40 Die Göttinnen, die in Karien am meisten verehrt wurden, sind Aphrodite (Aphrodisias), Artemis (Ephesus) und Hekate (Lagina-Stratonikeia).
Eine weitere Besonderheit der Karer war der Kult des Zeus Labrandeos, des Zeus mit der Doppelaxt. Nun ist die Doppelaxt ein altes Symbol der Potnia, der „großen Herrin“, die unter den Namen Diktynna, Rhea und Gaia verehrt wurde. Dass der karische Wettergott dieses Symbol übernahm, deutet darauf hin, dass er ursprünglich der Gefährte der großen Göttin war und rückt ihn in die Nähe des syrischen Zeus Dolichenus, des lydischen Zeus Targunnos und des hethitischen Tessub, die alle Blitz und Doppelaxt führen. Der Gipfel des Latmos war ihm heilig und war noch im Mittelalter das Ziel von Bittprozessionen, die bei anhaltender Trockenheit veranstaltet wurden: „Der Stein besaß Heilkräfte und verlieh den Äbten die Gabe der Erleuchtung.“41 So berichtet in einer Vita des heiligen Paulos des Jüngeren, die kurz nach 955 entstanden ist! Mit dem „Stein“ ist der 1375 Meter hohe „Radberg“ (Teherledag) oberhalb des Styrosklosters gemeint. Der Wettergott mit der Doppelaxt, der auf Berggipfeln haust, ist selbst den Türken heute noch als sagenhafter „Regenvater“ (Yamurbaba) geläufig.
Der Tempel in Lagina
Das berühmteste Heiligtum der Hekate war Lagina in der Nähe von Stratonikeia.42 Dass der Tempel berühmt war und bei einem alljährlichen Fest viele Menschen anzog, berichtet der Geograph Strabon in seiner Erdbeschreibung (XIV, 2,25); in der Nähe befand sich der bereits erwähnte Tempel des Zeus Chrysaoreus. Lagina gehörte ab 189 v. Z. zum Herrschaftsgebiet von Rhodos, das mit Rom verbündet war; der Tempel wurde 40 v. Z. Von den Parthern geplündert und 27 v. Z. von Augustus renoviert. Der Tempel genoss Asylie, der entsprechende Senatsbeschluss aus dem Jahre 81 v. Z. wurde laut Tacitus (Annalen 3,62) von Cäsar und Augustus bestätigt.
Das heutige Turgut (früher Leyne) liegt 15 Kilometer nordwestlich von Yatağan in der türkischen Provinz Muğla. 8 Kilometer vor Turgut befindet sich ein riesiges Kohlekraftwerk, in dem die Kohlevorkommen, die in der Umgebung von Stratonikeia im Tagebau gewonnen werden, verheizt werden. Die heilige Straße nach Lagina wird heute nördlich des Stadttors von Stratonikeia durch Aufschüttungen versperrt, die durch den Kohleabbau verursacht wurden.
Das Tempelareal wurde erstmals 1891 - 93 ausgegraben, die derzeitigen Grabungen werden von Ahmet A. Tirpan geleitet. Das Gelände steigt nach Westen hin an, nach Osten hat man einen schönen Blick auf die Berge am Horizont. Das Heiligtum der Göttin bestand aus einem von dorischen Säulenhallen umgebenen Temenos mit einem um 27 v. Z. errichteten Propylon, welches ein Portal aus drei Monolithblöcken besitzt. An der Südseite des Bezirkes befinden sich Sitzstufen für Zuschauer der jährlichen Festspiele für die Göttin; in jüngster Zeit (2008) hat man auch im Nordwesten des Tempels Sitzstufen freigelegt. Der Tempel, ein Preudodipteros mit 8 x 11 korinthischen Säulen, stammt aus der 2. Hälfte des 2. Jhrs. v. Z. Er misst 21,50 auf 28,02 Meter. Die Cella des Tempels ist relativ klein, die Vorhalle (Pronaos) besitzt 2 eingestellte Säulen ionischer Ordnung. Der Tempel besitzt keinen Opistodomos (Raum hinter der Cella). Der Fries des Tempels mit Szenen der Hekate befindet sich heute im archäologischen Museum in Istanbul.
Der Fries zeigt die Göttin als Zentralgestalt eines kleinasiatischen Pantheons sowie als Geburtshelferin des Zeus. Der Westfries zeigt den Gigantenkampf und imitiert in vielen Einzelheiten den im 2. Jahrhundert v. Z. geschaffenen Pergamonaltar. Hekate ist hier eingestaltig als starre, stehende Gestalt dargestellt, wie sonst auch in der kleinasiatischen Tradition, und bildet den Mittelpunkt des Geschehens. Sie hält die Arme weit von sich gestreckt und hält eine Fackel in der rechten Hand. Im Zentrum des Nordfrieses reichen eine Amazone und ein Krieger sich die Hand zum Vertrag. Hekate, die eine Fackel und eine Schale in den Händen hält, macht eine Libation (Trankopfer) und verleiht dem Bündnis ihren Segen. Der Ostfries zeigt den Mythos der Zeusgeburt, wobei Hekate dem jungen Gott das Leben rettet, indem sie die Rolle der Rhea übernimmt und Zeus‘ Vater Kronos den Stein überreicht, den er anstelle seines Sohnes verschlingt. Hekate erscheint hier also in der Funktion der Kourotróphos, der Kinderschützerin. Der Südfries zeigt das karische Götterpaar Zeus und Hera mit vier Knaben; neben der sitzenden Hera steht Hekate, zu deren Füßen ein Hase kauert (!); zwischen dem thronenden Zeus und Hera steht Hermes, der einen Knaben am Kopf berührt. Hekate berüht das Kleinkind in Heras Armen am Kopf; diese Geste steht in auffälliger Entsprechung zur Segensgeste des Hermes. Beide Gottheiten sind hier wohl als kourotrophoi, Schützer des Nachwuchses, dargestellt. Rechts sind noch zwei karische Ortsnymphen und andere Götter erkennbar. Diese merkwürdige Zusammenstellung beruht sicherlich auf einer regionalen Überlieferung43.