Ein Leben in zwei Welten. Gottlinde Tiedtke
er meine Mutter, ihm die Karten zu legen.
Er war sich sicher, dass sie den perfekten Zeitpunkt seiner Flucht voraussehen konnte. Ob er recht hatte oder nicht, weiß niemand, auf jeden Fall gelang ihm die Flucht und er fiel nicht in die Hände der Volkspolizei.
Angespornt von diesem Erfolgserlebnis entschloss sich seine Frau Leoni, ihm mit ihren zwei Töchtern nachzufolgen. Sie hatte einen Führer gefunden, der sie bis an die Grenze bringen sollte, das letzte Stück des Weges musste sie allerdings alleine mit den Kindern bewältigen.
Meine Mutter schlug folgende List vor:
„Nimm nichts mit außer einem Wäschekorb mit verknitterten Kleidungsstücken und trage den ganz entspannt über die Grenze. So, als wolltest du nur in den Nachbarort gehen. Sei mutig, glaube an ein Gelingen. Du schaffst das, es geht alles gut.“
Leoni beherzigte ihren Rat, nahm ihre Mädels und machte sich auf den Weg. „Johanna hat gesagt, wir schaffen das.“
Immer wieder habe sie diesen Satz wiederholt, erzählte sie mir Jahre danach. Tatsächlich geriet sie sogar in einen Trupp der Volkspolizei. Die blickten allerdings nur gelangweilt auf den Korb Wäsche und ließen sie passieren.
Unendlich erleichtert kam sie im Westen an.
Inzwischen stieg die Zahl der Menschen, die sich bei meiner Mutter Rat und Trost holten.
Es wurden immer mehr.
Eines Tages suchte auch die einstige Tanzstundenpartnerin meines Onkels Gerhard meine Mutter auf. Hildas Vater war Baumeister und ihm gehörten ganze Straßenzüge in den teuren Villenvierteln. Sie war verheiratet, doch ihr Mann war in Gefangenschaft geraten und sie hatte schon lange nichts mehr von ihm gehört.
In Hildas Haus wurde eine russische Offizierin einquartiert. Diese hatte ihr gestanden, dass sie sich nach Westberlin absetzen wolle, und bat sie um Hilfe.
Hilda erzählte das meiner Mutter. Diese legte ihr daraufhin die Karten und warnte sie eindringlich. Sie habe ein ganz schlechtes Gefühl. Die Karten stünden schlecht. Die Russin sei nicht vertrauenswürdig, sie solle die Finger davon lassen und ihr nicht bei ihren Fluchtplänen helfen. Hilda sah das anders. Sie entschloss sich, der Russin dennoch zu helfen, und gab ihr eine Kontaktadresse in Westberlin. Die Offizierin setzte sich nach West-Berlin ab und zeigte Hilda sofort an.
Kurz darauf wurde sie von der Volkspolizei festgenommen und zu sieben Jahren im KZ Buchenwald verurteilt.
Für Hilda, die eine sehr intelligente und mondäne Frau war, ein undenkbarer Schicksalsschlag. Sie überlebte das KZ, aber wurde nie wieder sie selbst.
Ihr Mann wurde wenig später aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen, und tatsächlich hatte er es auch geschafft, seine beiden Töchter aus der DDR in den Westen zu holen.
Viele andere, die ein ähnliches Schicksal teilten, hatten sich scheiden lassen, er nicht. Er wartete auf Hilda, obwohl er sie all die Jahre nicht ein einziges Mal sehen durfte.
Die Flucht
Eines Nachts hatte mein Vater einen seltsamen Traum, aus dem er schweißgebadet aufschreckte. Eine laute Stimme sagte zu ihm:
„Du bist krank. Wenn du hierbleibst, wirst du sterben. Du musst über die Grenze in den Westen gehen.“
Er zweifelte nicht an dem Traum, deshalb ließ ihn die Idee an eine Flucht fortan nicht mehr los.
Er sprach mit seiner Frau Johanna. Sie bestätigte ihn in seinem Vorhaben und zusammen organisierten sie heimlich seine Flucht.
Nachts brachte ihn ein Schleuser bis an die Grenze. Er zeigte ihm den Weg, den er einschlagen musste, um nicht entdeckt zu werden. Auch dieser Fluchtversuch glückte. Johannas Brüder, die schon lange im westlichen Teil Deutschlands lebten, nahmen meinen Vater auf.
Als meine Mutter den Anruf aus dem Westen erhielt, blieb sie ganz ruhig. Sie hatte ja den erfolgreichen Ausgang der Mission bereits in den Karten gesehen.
Ganz anders als in der DDR wurden Lehrer in Westdeutschland dringend gesucht. Mein Vater fand sofort eine Anstellung. Nun war er froh, dass er neben seiner Musikerausbildung auch das Lehramt studiert hatte. Denn als Musiker hatte man es schwer, viele waren arbeitslos.
Dann geschah eines Tages etwas Sonderbares. Mein Onkel und seine Frau standen an ihrem Fenster und erblickten einen Mann mit einer Laterne.
Dieser ging auf meinen Vater zu, blieb neben ihm stehen und begrüßte ihn. Beide schüttelten sich die Hände und umarmten sich. Die Begegnung dauerte nur ein paar Minuten und der alte Mann, in dem mein Onkel sofort seinen eigenen Vater erkannte, verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Als die beiden meinen Vater etwas später auf diese Begegnung ansprachen, wusste dieser von nichts. Sie waren sich jedoch sicher, Zeuge eines spirituellen Erlebnisses gewesen zu sein, denn der Vater lebte schon geraume Zeit nicht mehr, hatte sich aber niemals von Johannes, seinem Sohn, verabschieden können.
1950 arbeitete mein Vater wieder als Lehrer. Man hatte ihm eine Stelle in einem kleinen, verwunschenen Heidedorf in der Nähe von Bremen angeboten. Statt Großstadtflair fand man hier reetgedeckte Fachwerkhöfe und uralte Eichen.
Im Osten bereitete uns meine Mutter derweil auf die Flucht vor. Sie hatte überall die Geschichte erzählt, dass mein Vater jetzt Kapellmeister in Stralsund an der norddeutschen Küste in der DDR sei.
Schlau, wie sie war, hatte sie sich bereiterklärt, der Familie einer verstorbenen Nachbarin den Nachlass zu ordnen und ihn ihr zuzuschicken. So fiel es nicht auf, dass sie viele persönliche Dinge einpackte und zu ihrem Bruder Karl nach Hannover sandte. Sie verschickte auch das Radio, obwohl das verboten war. Die Kupferdrähte im Radio waren aus Buntmetall. Das war sehr waghalsig und es stand Zuchthaus darauf, wenn man erwischt wurde. Ganz ehrlich, ich hätte es nicht gewagt, aber meine Mutter war in dieser Beziehung einzigartig.
Sie fühlte sich beschützt, manch einer würde sagen, sie hatte einfach Glück. Doch wie viel Glück kann man haben? Meine Mutter hatte immer Glück, was rein logisch betrachtet auch kaum nachzuvollziehen ist. Ich würde sagen, Gott hielt seine schützende Hand über sie.
Als bereits die halbe Wohnung ausgeräumt war, klingelte an einem Abend die Volkspolizei bei uns.
Meine Mutter behielt die Nerven. Die Polizei hatte nur über jemanden eine Auskunft einholen wollen, aber uns Kindern saß der Schrecken tief in den Gliedern.
Ein paar Tage später drückte sie meiner Schwester und mir eine Tasche in die Hand und wir verließen still das Haus. Wir fuhren nach Dresden zu Tante Bertha.
Am Dresdner Hauptbahnhof angekommenen, übersah meine Mutter auch noch einen Bombentrichter und verdrehte sich den Fuß, sie konnte kaum laufen. Das erste Mal in meinem Leben sah ich Angst in ihren Augen. In dieser Nacht, wie auch in der vorangegangen, hatte sie von Plakaten und Wegweisern in kyrillischer Schrift geträumt.
„Hoffentlich schnappen sie uns nicht“, meinte sie besorgt.
Weiter ging es mit dem Zug nach Ostberlin, wo uns Frau Kurz abholte. Dort gab es noch eine U-Bahn-Verbindung nach Westberlin. Es waren ein oder zwei Stationen. Wir fuhren stillschweigend.
„Macht ja nicht den Mund auf! Seid ganz still!“, hatte man uns eingebläut.
Mit uns im Waggon saßen ein Kontrolleur und die Volkspolizei. Endlich nach einer halben Ewigkeit hielt die U-Bahn. Wir atmeten auf. Wir waren im Westen – und in Sicherheit.
In den ersten Tagen wohnten wir bei Familie Kurz, dort warteten wir darauf, dass mein Vater uns die Flugtickets für die Reise nach Hamburg schickte. Ich war zehn Jahre alt und sah das erste Mal eine Banane. Frau Kurz lief gleich in den Laden und kaufte sie mir.
Mit einem großen Militärflugzeug flogen wir ein paar Tage später von Berlin Tempelhof, das damals noch in amerikanischer Hand war, nach Hamburg. Der amerikanische Kapitän trug eine Bomberjacke. Als er mich sah, blieb er stehen, kniff mich in die Wange und sagte kaugummikauend: „Hi Baby!“