Ein Leben in zwei Welten. Gottlinde Tiedtke

Ein Leben in zwei Welten - Gottlinde Tiedtke


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Akribisch suchten sie jeden Winkel nach ihm ab.

      Nachdem die Polizei gegangen war, kam seine Frau zitternd zu uns: „Ich habe gesagt, mein Mann kommt heute später. Er trifft sich noch mit Freunden.“

      Meine Mutter nickte verständnisvoll und gab ihr Geld. Daraufhin nahm Frau Kurz ihre zwei Kinder und schlich sich leise aus dem Haus. Sie wusste, dass sie niemals wiederkommen würde.

      Als wir dann 1950 aus der DDR flüchteten, war es Familie Kurz, die uns in Westberlin aufnahm.

      Das seltsame Porzellanspiel

      Eine andere seltsame Begebenheit verband ich mit meiner Tante Hilde. Sie war eine Freundin einer Freundin meiner Mutter und war Zahnärztin in Dresden. Ihre Praxis stand noch.

      Als die Straßenbahnen wieder fuhren, besuchte ich sie, unangemeldet – und ganz allein.

      Ich war damals gerade mal acht Jahre alt und hatte natürlich nicht an das Geld für eine Fahrkarte gedacht. Ich fuhr einfach, ohne zu bezahlen. Jeder wähnte mich irgendwo zu Hause, keiner wusste, dass ich einfach auf Reisen gegangen war.

      Die Fahrt war beeindruckend.

      In Dresden stand nichts mehr, man fuhr durch riesige Schuttberge und sah meilenweit nur Ruinen. Es war ein morbides Szenario. Unwirklich, aber doch grausam real.

      An den Wänden der zerstörten Häuser waren immer noch Tapeten zu sehen. Manchmal war da ein schmales Fußbodenstück, das noch intakt war, manchmal standen da auch ein Stuhl oder ein Bett in schwindelnder Höhe.

      Überall an diesen gespenstischen Wänden hatte man Suchlisten angebracht.

      Suchlisten überall.

      Mit all diesen niederschmetternden Eindrücken hatte ich langsam die Motivation verloren. Ich hatte plötzlich keine Lust mehr, meine Tante zu besuchen und meine Zähne anschauen zu lassen. Als ich dann in ihrer Praxis stand, wunderte sie sich, glaube ich, sehr über mich. Vor allem, als ich mich kurz darauf wortlos und unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg machen wollte.

      Abermals ohne einen Pfennig Geld.

      Doch meine Tante schritt ein. Sie nahm mich an die Hand und sagte: „Wir gehen jetzt zu meiner Freundin, trinken Tee und essen Kuchen. Du brauchst eine Aufmunterung.“

      Tante Hildes Freundin war Bibliothekarin.

      Sie wohnte in einem alten romantischen Winzerhaus mit einem Garten in Hanglage. Dort stand eine riesige Linde, um die man eine Bank gebaut hatte. Ihr Mann war Maler und mir gefielen seine Bilder. Ihre Tochter Ingrid war ein bisschen älter als ich, trotzdem verstand ich mich auf Anhieb gut mit ihr.

      Vor allem das lichtdurchflutete Eckzimmer mit den großen Fenstern hatte es mir angetan. In unmittelbarer Nähe standen ein Bücherregal und ein Tisch mit Stühlen. Die eigentliche Attraktion in diesem Zimmer aber war ein Spiel, das mir Ingrid zeigte.

      Es befand sich in einem kostbaren Holzkasten und war ganz aus Porzellan.

      Ähnlich einem Puzzle bestand es aus bemalten Quadraten und Dreiecken, die mit wunderschönen, filigran gearbeiteten Blumenmotiven verziert waren.

      Man konnte dieses Puzzle in allen möglichen Formen zusammensetzen, jedes Mal entstand ein neuer wunderschöner Garten. Manche Stücke waren schon etwas abgegriffen, es muss schon sehr alt gewesen sein.

      Viele Jahre später erzählte mir Tante Hilde, dass meine Spielkameradin in ein Kloster gegangen sei. Sie habe das Gelübde abgelegt und sei sehr jung gestorben. Auf meinen Wunsch erkundigte sich meine Tante bei Ingrids Mutter, was denn aus dem Porzellanspiel geworden sei, ob sie es vielleicht noch hätten.

      Ingrids Mutter war sehr erstaunt über diese Frage und erklärte, dass sie noch nie solch ein Spiel besessen hätten. Ich beschrieb es ihr daraufhin ganz genau. Es war alt, ich vermutete, es stammte mindestens aus dem 18. Jahrhundert, die Glasur war matt, mit kleinen Kratzern versehen und Goldverzierungen, die schon abblätterten.

      So vielen Menschen hatte ich schon von diesem wunderbaren Spiel erzählt. Die gesamte Familie wurde befragt und jeder Einzelne beteuerte immer wieder, dass ein solches Spiel niemals im Hause gewesen sei. Ich fragte daraufhin sogar in Meißen nach, da ich mir ziemlich sicher war, dass das Spiel aus Meißner Porzellan gefertigt worden war.

      Doch auch dort wusste man nichts von solch einem Spiel.

      Gottlinde mit Freundin

      Eines Nachts träumte ich von meiner Freundin Ingrid. Zusammen spielten wir mit dem Porzellanspiel, doch sie war kein Kind mehr, sondern bereits eine Nonne. Ich fragte sie, woher sie das Spiel denn hätte und sie erklärte mir, dass sie es in einer anderen Welt gefunden habe und für mich in unsere hineintransformiert hatte.

      „Was für ein wundersamer Zauber“, hörte ich mich noch sagen, dann wachte ich auf.

      Die Weisheit der Karten

      Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten in einer alten Landschule in Mautitz, der Großvater war längst pensioniert. Wenn wir sie besuchen wollten, fuhren wir mit dem Schaufelraddampfer ein Stück die Elbe entlang. An Bord gab es immer eine heiße Gemüsebrühe in einem Keramikbecher ohne Henkel. Eigentlich schmeckte die grün-graue Suppe nur salzig, aber ich liebte sie heiß und innig. Waren wir dann endlich an der Anlegestelle angekommen, mussten wir noch sehr weit laufen.

      Schon von weitem sah man die Schule. Als Begrüßungskomitee kamen immer ein paar Hühner. Auf dem Hof stand ein riesiger Birnbaum mit einer Schaukel. Die Birnen waren so groß und saftig, dass es einen Platsch-Ton tat, wenn sie herunterfielen und in Stücke zerbarsten. Auch konnte es passieren, dass einem beim Schaukeln eine dieser Birnen auf den Kopf fiel und dann zerplatzte.

      Meine Schwester und ich teilten uns ein Schlafzimmer und ein Bett. Dieses war so hoch, dass ich Schwierigkeiten hatte hineinzuklettern. Hatte man das geschafft, versank man in einem Meer aus weichen Federbetten und frisch gestärkter geblümter Bettwäsche.

      Im Herbst war der behäbige, große Kleiderschrank ganz von dem süßen Duft der Äpfel und Quitten erfüllt, die dort lagerten. Überall roch es so gut.

      Fast immer wurde ein Huhn geschlachtet, und meine Großmutter bereitete davon eine köstliche Suppe, die man dann mit den tiefen Esslöffeln aß, die schon so alt waren, dass sie bereits ganz ausgehöhlt waren. Einer hatte sogar ein Loch in der Mitte, das war mein Lieblingslöffel. Es bereitete mir ein diebisches Vergnügen, damit zu essen, während die Brühe in einem dünnen Strich langsam zurück in den Teller lief.

      Jeden Morgen wurden wir von dem krähenden Hahn geweckt. Nach einem Frühstück mit kernigem Brot und dicker Wurst rannte ich in die Laube.

      Frühstück mit Hühnern

      Sie erinnerte an einen sechseckigen Pavillon, der mit edlem Holz ausgekleidet war. Durch das Innere der Laube zog sich eine Bank. In unmittelbarer Nähe, mittig platziert, befand sich ein riesiger Holztisch. Bei Regenwetter machten wir dort gemeinsam Spiele.

      Es war eine heile Welt.

      Leider dauerte es nicht lange und das Familienidyll fand ein jähes Ende. Das neue Regime warf meine Großeltern aus ihrer Schule. Nun mussten sie zusammen mit der jüngsten Schwester meiner Mutter in eine Notwohnung ziehen. Die Wohnung war so klein, dass sie sich von all ihren schönen Möbeln trennen mussten.

      In der neuen Wohnung funktionierte nicht einmal der Ofen. Für meine Großeltern brach eine Welt zusammen – und für uns Kinder auch.

      Meine Mutter deutete derzeit weiterhin Träume und legte Karten. Die Freundin, mit der sie das Traumbüro führte, hatte einen Chemiker geheiratet, der seit Jahren an der Erforschung der Sulfonamide beteiligt war. Das Unternehmen Boehringer interessierte sich sehr für


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