Im Schoß der Familie. Franziska Steinhauer

Im Schoß der Familie - Franziska Steinhauer


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ein Meer von Bettlern schieben, um das Haus verlassen zu können.

      «Na, vielleicht hat er ja recht damit», murmelte Ferdinand und wappnete sich gegen das langweilige Geschwätz und die Eitelkeiten des bevorstehenden Abends.

      «GERLINDE! Gerlinde!» Gundula von Weitershausen rauschte aufgeregt durch das Speisezimmer. «Wo steckst du denn? Siehst du denn nicht, dass die Käseplatte für den Ausklang noch fehlt? Und die Gästezimmer – sind die auch wirklich alle fertig? Gerlinde, nun komm schon her!»

      Herr von Weitershausen eilte ihr nach, schlang seine muskulösen Arme um ihre Taille und raunte ihr beruhigend ins Ohr: «Sieh mal, die Gäste fühlen sich wohl. Alles ist bestens organisiert gewesen, allenthalben höre ich nur Lob für deine Vorbereitungen. Im Augenblick sind alle satt und zufrieden. In etwa einer Stunde verkünde ich den Namen des Glücklichen, der das diesjährige Stipendium bekommen wird, alle sind sehr gespannt. So soll es schließlich sein. Gleich kommt der Teil der Gäste, der nur zu Gespräch und Wein geladen ist, und ich bin sicher, auch der geht am frühen Morgen glücklich nach Hause.» Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und gesellte sich zu einer der größeren Gruppen, die sich gefunden hatten.

      Einige der Herren folgten ihm ins Raucherzimmer, die anderen wechselten in die Bibliothek, in der zwar Wein, Champagner und andere Getränke, nicht aber der Käse bereitstanden.

      Gerlinde sah und hörte von alldem nichts. Das Hausmädchen huschte durch den langen Flur im oberen Stockwerk und suchte nach einem Versteck. Familie von Weitershausen gibt ein Bankett, wie schön, dachte Gerlinde in heftig aufwallendem Trotz. Da soll die gnädige Frau eben mal selbst Hand anlegen. Natürlich war ihr klar, dass es Ärger geben würde, doch jetzt brauchte sie erst mal eine Pause, wollte einen Moment durchatmen. Danach würde sie an die Arbeit zurückkehren.

      «Wo ist Gerlinde?», fauchte die Dame des Hauses die Köchin an, die erschrocken die Kelle auf den Boden scheppern ließ. «Nun pass doch auf! Wie kann man nur so tölpelhaft sein!»

      «Gerlinde kommt sicher gleich zurück. Sie wollte nur schnell an die frische Luft. Die Kleine hat Kopfweh», erklärte die schwere Barbara und war dankbar dafür, dass es an der Tür schellte.

      Frau von Weitershausen wirbelte herum und hastete in Richtung Entree.

      Barbara bückte sich ächzend nach der Kelle und spülte sie gründlich ab. «Minestrone, ha! Früher hieß das Gemüsesuppe und hat auch so geschmeckt. Aber wer zahlt, darf eben auch festlegen, wie das, was gekocht wird, heißt.»

      «Was ist denn hier los?» Der Hausdiener streckte neugierig seinen Kopf durch die Tür. «Alle aus dem Häuschen?»

      «Und wie!» Barbara nickte aufgeregt. «Sind denn nun alle da?»

      «Fast. Der Hof ist schon voller Fahrzeuge, ein Paar wird noch erwartet. Der Salon summt vom eifrigen Geplapper. Sieht so aus, als wären alle bester Laune.»

      Die Köchin seufzte erleichtert. «Welche Farbe?» Dass sie damit die Farbe der teuren Roben, die die Damen trugen, meinte, wusste Karl, der eigentlich Willi hieß, auch wenn diesen Namen nur noch seine Frau für ihn benutzte.

      «Pastellblau. Lagune, glaube ich, nennt man diesen Ton. Der einen steht’s, der anderen nicht.» Er trollte sich eilig, als wieder geklingelt wurde.

      Gerlinde öffnete die Tür zu einem der Gästezimmer. Ein sonderbarer Geruch schlug ihr entgegen. Erst konnte sie ihn gar nicht zuordnen, doch ganz unbekannt war er ihr nicht, allerdings gehörte er eindeutig nicht hierher. Auf jeden Fall roch es unangenehm. Metallisch. Übelkeit erregend. Ein bisschen nach Metzgerei. Und feucht schien es in dem Raum auch zu sein. Ob jemand etwas auf dem Teppich verschüttet hatte?, überlegte sie besorgt. Hoffentlich keinen Rotwein, schossen ihre Gedanken alarmiert weiter, und sie beschloss, das Licht einzuschalten.

      Was Gerlinde nun sah, war so unbeschreiblich, dass es dem Mädchen den Atem nahm. «O Gott! Wer tut denn so etwas?», hauchte sie nur. Das Beste wäre, sie löschte das Licht und würde die Tür leise hinter sich schließen, um niemanden zu stören. Das wäre vernünftig.

      Samuel, Jakub, Schlomo und Chaleb waren wie üblich gemeinsam auf dem Weg in die Synagoge. Sie unterhielten sich leise, während sie ihre Frauen in Schlomos Wohnung bei Handarbeiten und Plausch wussten.

      «In wenigen Tagen ist auch dieses Jahr vorüber», seufzte Samuel, «und es ist nichts besser geworden.»

      «Nun, es kommt ein neues. 365 Tage zum Wandel in eine gute Zeit.» Chaleb kicherte verhalten.

      «Mit Kurt von Schleicher wird sich auch nichts verbessern – eher im Gegenteil. Man hat das Gefühl, das ganze Land halte die Luft an und warte auf die Wahl.»

      «Was, wenn die Wahl zu keinem eindeutigen Ergebnis führt? Das bringt doch nur neuen Streit.»

      Die Gruppe ging gemächlich an der Elbe entlang. Die fast bodenlangen Mäntel hoch geknöpft, die Kragen bis zu den Ohren aufgestellt. Vereinzelt fielen Schneeflocken im Schwarz der Nacht.

      «Ich wünschte, es wäre nicht so kalt. Manchmal kommt es mir vor, als zitterten sogar meine Knochen, weil sie derart frieren.»

      «Das ist das Alter, Chaleb», neckte Samuel.

      «Du denkst, der Tod greift schon nach mir? Ich fühle nicht den Dezember, sondern den Eishauch des Grabes? Nein, nein! Eine gute Weile will ich es schon noch mit euch aushalten.»

      «Das sollst du auch, Chaleb», versuchte Schlomo die entstandene Missstimmung zu verscheuchen. Es fühlte sich plötzlich so an, als sei ein Fremder mit kaltem Blick zwischen die Freunde getreten. Er schüttelte sich gegen die Gänsehaut.

      «Der Rabbi mag es nicht, wenn wir Scherze über das Sterben machen», erinnerte Schlomo die Gruppe, und so trotteten sie die nächsten Meter schweigend nebeneinanderher, unterquerten die Brücke in der Nähe des Albertinums. Die Elbe schwappte träge gegen die Mauer, die vier verharrten und sahen über die dunkle Fläche hinweg zum gegenüberliegenden Ufer.

      «Die Elbe. Stellt euch nur vor, neulich träumte mir, ihr Wasser sei blutrot geworden. Wie in der Apokalypse. Und alle Fische trieben leblos darin, Bauch nach oben, blass und still. Nun, da bin ich hochgefahren in meinem Bett, war zittrig und heiß am ganzen Körper. Schließlich hatte mein Vater – möge seine Seele in Frieden ruhen – auch solche Dinge gesehen. Und oft genug wurden seine bösen Träume wahr!» Chaleb wirkte noch immer sehr beunruhigt. Der unerbittliche Wind fuhr in seinen langen Bart und zerrte kräftig daran.

      «Ach Chaleb, man träumt schon mal schlecht», meinte Samuel und klopfte dem Freund aufmunternd auf die Schulter.

      «Ist sie nicht wunderschön? Immer, wenn ich auf sie zuschreite, fällt mir ihre Schönheit und Anmut auf. Seht doch nur! Und wie warm das Licht zur Einkehr einlädt. Aller Zwist, aller Machloikes ist vergessen, ein jeder achtet den anderen, wie auch er selbst geachtet werden will.» Schlomo verhielt seinen Schritt, sah in Richtung Synagoge, breitete die Arme weit aus und schwärmte weiter: «Es ist wie nach Hause kommen. Niemand wird abgewiesen, jeder ist willkommen.»

      Das imposante Gebäude am Hasenberg, das einer schutzbietenden Trutzburg glich, war nur in einem kleinen Bereich beleuchtet. Der sechseckige Turm prangte über dem dreigeschossigen Haus, und in einem der seitlichen Türme brannte ganz oben noch Licht.

      «Ich will dir das ja nicht ausreden», murrte Chaleb, dem es gar nicht recht war, dass die anderen seinen bösen Traum so gleichgültig abgetan hatten. «Aber wenn wir uns jetzt nicht sputen, kommen wir zu spät zu unserem Gesprächskreis. Und dann kann von offenen Armen möglicherweise nicht mehr die Rede sein!»

      Gerlinde starrte Mireille mit offenem Mund an. Das Hausmädchen war verwirrt. Was tat die junge Frau nur im Gästezimmer?, dachte es. Ihre Räume lagen doch am anderen Ende des Ganges, dort, von wo man einen wunderbaren Blick auf den Garten hat. Hier gehörte sie nicht hin. Gerlinde ging in die Hocke. Achtete darauf, nicht in die große Blutlache zu treten. Streckte ihre Hand nach Mireilles Arm aus, streichelte ihn sanft. Wie morgens, wenn sie die junge Frau aus tiefem Schlaf weckte. Obwohl


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