Im Schoß der Familie. Franziska Steinhauer
Sehr interessant, dachte Ganter. Wie mag er das wohl gemeint haben?
Frau von Weitershausen tupfte ununterbrochen mit einem blütenweißen Taschentuch am unteren Lidrand entlang. Schniefte. Weinte. Wischte erneut.
«Frau von Weitershausen, was für ein Mensch war Mireille Loliot?»
Die Gastgeberin schwieg. Aber wenigstens hatte sie zu schniefen aufgehört, während sie offensichtlich auf eine Antwort sann, und das war Ganter mehr als willkommen.
«Wie soll ich das wissen?», hauchte sie unerwartet. «Ich kann doch nicht lesen, was hinter ihrer Stirn vorgeht.»
«Und ihr Verhalten? Ich möchte mir gern ein Bild von ihr machen können. Beschreiben Sie die junge Dame doch bitte!»
Gundula von Weitershausen richtete ihren Oberkörper steil auf und fixierte die Augen ihres Gegenübers, während sie unemotional aufzählte, als lese sie eine Einkaufsliste vor: «Unschuldig, freundlich, wohlerzogen. Wie man es von einem Mädchen dieser Klasse erwarten darf. Die Dienstboten waren geradezu begeistert von ihrer Bescheidenheit und ihrer unkomplizierten Art. Sie fügte sich sehr unauffällig in unseren Haushalt ein, fühlte sich im Schoß unserer Familie offensichtlich geborgen.» Wieder ein Schluchzer.
Ganter suchte misstrauisch nach Tränenspuren, fand aber keine. Aha, dachte er griesgrämig, schon wieder eine Bühnendarbietung. «Wussten Sie von der Liebe zu Herrn Koch?»
«Aber natürlich nicht!» Gundula von Weitershausen schüttelte energisch den Kopf. «Wenn es tatsächlich eine Verbindung gab, so ist es den beiden gelungen, sie geheim zu halten. Möglicherweise sollte Jean es als Erster erfahren, wer weiß. Ach, der arme Mann! Er vertraute uns Mireille an, damit sie ihre angegriffene Gesundheit … Und nun starb sie in unserer Obhut!» Neue Tränen. Wischen. Tupfen.
«Sie starb nicht einfach so – jemand hat sie ermordet», stellte Ganter klar. Sprachliche Vertuschungstechniken wollte er nicht zulassen. Seiner Meinung nach sollte die Familie so früh wie möglich damit beginnen, sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen. Außerdem erschwerten wortreiche Verschleierungen seine Ermittlungen.
«Seien Sie nicht so roh!», tadelte ihn die Dame wie erwartet. «Es ist für uns alle ein grässlicher Hieb des Schicksals.» Sie schniefte.
Hier kam er nicht weiter, wurde dem Ermittler klar. «Hieb des Schicksals», wie albern! «Stich des Mörders» träfe es eher, hörte er seine innere Stimme höhnen. Er beschloss, sie so gut zu ignorieren, wie es eben ging. «Ich brauche die Namen aller Personen, mit denen Fräulein Loliot näher bekannt war.»
Ein gequältes Nicken war die Antwort. «Karl wird Ihnen eine Liste ins Bureau bringen.»
Ganter spürte den Worten nach und befand, dies war ein Versuch, ihn in Zukunft aus dem häuslichen Milieu in der Villa der von Weitershausens herauszuhalten. Nun, überlegte er, das wird nicht gelingen. «Waren Sie selbst auch damit einverstanden, dass die junge Dame in Ihr Haus zog?»
«Selbstverständlich. Das arme Kind hat nach dem plötzlichen Tod der Mutter nicht recht ins Leben zurückgefunden, war immer schwächlich und ohne Antrieb. Seit sie in Dresden lebte, ging es ihr sichtbar besser. Wir sorgten für reichlich Abwechslung in ihrem Alltag und viel Bewegung an der frischen Luft. Langsam bekam ihr Gesicht Farbe, und sie nahm auch wieder zu. Besondere Freude hatte sie an den täglichen Ausritten. Natürlich unternahm sie diese nicht allein, unser schwedischer Pferdepfleger Arne begleitete sie immer. Das ist ihr sehr gut bekommen», erklärte die Gastgeberin in rechtfertigendem Ton, als habe man ihr vorgeworfen, das Mädchen sei von den Weitershausens bewusst dem Hungertod überlassen worden.
Der Dresdner Ermittler konstatierte, dass die Familie sich hartnäckig um die unangenehme Realität herumdrückte. «Wann wird Herr Loliot zurückerwartet?»
«Genau wissen wir das nicht. Allerdings hofften wir, ihn zu Mireilles Geburtstag in der kommenden Woche hier begrüßen zu dürfen.»
«Sie haben keinen engeren Kontakt gehalten?», staunte Ganter.
«Doch, natürlich. Telegramme und Briefe. Auch Mireille hat ihm regelmäßig geschrieben. Deshalb wissen wir auch, dass er seine Planung für die neue Fabrik besser und schneller umsetzen konnte als erhofft. Über seine Reisepläne jedoch hat er nichts verlauten lassen.»
«Was, wenn nun eine wichtige Entscheidung hätte getroffen werden müssen, das Fräulein zum Beispiel krank geworden wäre?»
«Sie ist rechtlich unser Mündel. Alle Entscheidungen treffen wir.» Sie merkte, dass sie im Präsens gesprochen hat, und schlug die Hände vor den Mund. «Aber das hat ja nun keine Bedeutung mehr.»
Wortlosigkeit richtete sich im Raum ein.
Plötzlich änderte sich der Gesichtsausdruck der Gastgeberin. Gerade noch schmerzverzerrt, wandelten sich die Züge hin zum Arroganten, ihr Blick wurde kalt, und ein neuer Ton hielt Einzug. «Ich hoffe, die dramatische Entwicklung wird unser gutes Verhältnis nicht belasten. Es wäre mehr als bedauerlich, wenn der heutige Abend unsere langjährige Freundschaft zerstörte und unsere Geschäftsbeziehungen belastete.»
Ganter hörte ihr fassungslos zu. Konzentrierte sich darauf, den Mund nicht unvorteilhaft und dümmlich offen stehen zu lassen. Vorsichtshalber griff er mit der Rechten an sein Kinn. Da wäre ich aber gern dabei, wenn die Familie Weitershausen auf den Vater des Opfers trifft, dachte er sarkastisch. Ganz friedlich wird das wohl kaum abgehen. Ich würde glauben, dass diese Leute mein Kind nicht gut betreut haben. Ich könnte ihnen das nie im Leben verzeihen. Mein Gott, Ganter, diesen Fall kriegst du nie gelöst. Diese Leute fühlen und handeln völlig anders als du! Neben einem Mordopfer stehend, denken die nicht an den Schmerz des nächsten Verwandten, sondern an die Geschäftsbeziehungen, die nicht gestört werden sollen, mahnte seine innere Stimme, und ein schwarzer Verdacht keimte in ihm auf: Er war in der letzten Zeit einige Male hart bei seinen Vorgesetzten angeeckt – hatte man ihm diesen Fall zugewiesen, damit er scheiterte? Sollte so seine Laufbahn beendet werden?
Konrad schlenderte auf seinem Heimweg nach dem Besuch der Eckkneipe langsam durch die Wolfsgasse. Je näher er seiner Haustür kam, desto lustloser schritt er aus. Harry trottete schweigend nebenher, so als wolle er ihn beim Denken nicht stören.
«Weißt du was, Harry? Fritz haben wir schon lange nicht mehr besucht. Das machen wir morgen! Der wird sich freuen, wenn wir mal wieder bei ihm auftauchen. Vielleicht nehmen wir unsere Damen mit, dann können sich die Mütter über Kindererziehung austauschen, während wir Männer uns mit wichtigen Angelegenheiten auseinandersetzen, Politik zum Beispiel. Und so viel Arbeit wird er auch nicht haben, dass er uns kurzerhand vor die Tür setzt.» Konrad nickte seinem Hund zu. «Eine Runde noch, dann müssen wir wirklich hoch!»
Nach einer halben Stunde standen sie erneut vor dem Hauseingang. «Das war’s für heute. Morgen gehen wir bei Fritz vorbei. Vielleicht muss Frieda einfach mehr unter Leute.»
Konrad bückte sich und hob den kurzbeinigen Begleiter auf den Arm, trug ihn die breite Treppe hoch bis in die Wohnung.
Alles dunkel.
«Psst!», flüsterte er Harry ins Ohr. «Die Damen schlafen wohl schon. Da wollen wir sie mal lieber nicht wecken.»
Harry verstand. Trollte sich leise auf seinen Platz neben dem noch warmen Ofen.
Konrad kroch wenig später zu Frieda ins Bett. Seine Frau murrte leise im Schlaf, warf sich herum und wandte ihm den Rücken zu. Auch gut, dachte Konrad trotzig, dann muss ich nicht mit dir reden. Worüber auch?
Als der Morgen zu dämmern begann, war Fritz Ganter müde und zerschlagen auf dem Weg nach Hause. Wenigstens ein frisches Hemd für den neuen Arbeitstag würde er brauchen. Auf der Fahrt überlegte er, was er nun an greifbaren Informationen über die Ermordete bekommen hatte. Wenig. Immer freundlich sei sie gewesen, stets sauber und ordentlich, pünktlich, zuvorkommend. Eine junge Frau ohne die geringste schlechte Eigenschaft. Neid, Missgunst oder intrigantes Gehabe seien ihrem Wesen fremd gewesen, hatte man ihm unisono versichert. Sie wusste sich zu benehmen, war von gutmütigem Wesen, hatte man zu Protokoll gegeben. Wo sollte da eine polizeiliche Ermittlung