Im Schoß der Familie. Franziska Steinhauer
seine Schuhe ab, um nichts von dem Grauen in den Flur zu tragen. Sie verließ das Zimmer so vorsichtig wie das einer schlafenden Kranken und ging mit steifen Knien hinunter in die Küche, um Barbara zu fragen, was nun geschehen sollte.
Die feiernden Menschen, das festlich geschmückte Haus – all das kam Gerlinde plötzlich unwirklich vor, fühlte sich falsch an. Sie durchquerte die Räume wie jemand, der ein Gespenst gesehen hatte, hielt schnurgerade auf den Hoheitsbereich der Köchin zu.
«Da bist du ja endlich! Und wie du aussiehst! Der Käse! Du hattest die Käseplatte vergessen. Mach dich auf Ärger mit der Gnädigen gefasst», empfing sie Barbara unwirsch.
Gerlinde setzte sich an den Tisch. Schwieg. Stand unvermittelt wieder auf, griff nach einem Küchenhandtuch und begann damit das Geschirr abzutrocknen. Schon der zweite Teller entglitt ihren bebenden Fingern und zerschellte mit Getöse auf dem Fußboden.
«Nun pass doch auf, du dummes Ding!», herrschte die Köchin sie an. «Was ist denn heute mit dir los?»
«Oben im grünen Zimmer liegt Mireille», erzählte das Mädchen emotionslos, als spräche es über einen Scheit Brennholz.
«Was tut sie denn da?», fragte Barbara begriffsstutzig zurück. «Sie hat doch eigene Räume.»
«Sie macht nichts. Gar nichts, weißt du? Tote sind eben so.»
«Tote?»
«Ja. Dass sie nicht mehr lebt, ist nicht zu übersehen.»
Die resolute Köchin stapfte los, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Die jungen Dinger reden manchmal wirres Zeug, wusste sie, da ist es besser nachzusehen, ehe ich die Herrschaft in Angst und Schrecken versetze. Außerdem ist nie auszuschließen, dass Gerlinde von dem Alkohol genascht hat, der heute großzügig ausgeschenkt wurde, drängte sich ihr ein neuer Verdacht auf. Doch hinter der Tür zum grünen Zimmer fand sie alles so vor, wie Gerlinde behauptet hatte. Was nun?
«Du arme Kleine! Erst stirbt die Mutter, der Vater reist ins Ausland – und nun stirbst du hier ganz allein. Nun, nicht ganz allein wohl. Was wolltest du hier eigentlich?»
Die Köchin beschloss, den Hausdiener in dieses schreckliche Geheimnis einzuweihen. Der werde schon wissen, was zu tun sei. Sie trat von hinten an ihn heran und flüsterte eindringlich: «Karl! Im grünen Zimmer liegt das gnädige Fräulein. Ich fürchte, es ist tot.»
Karls Augen sahen für einen Moment so aus, als wollten sie aus den Höhlen springen.
Barbara wich instinktiv einen Schritt zurück, wohl um nicht getroffen werden.
«Was? Fräulein Loliot ist tot? Das kann doch gar nicht wahr sein. Vorhin war sie doch noch bester Stimmung», antwortete er ungläubig.
Aus den anderen Räumen klangen Musik und das leichte Geplauder der Gesellschaft bis in die Küche. Für die drei Wissenden hatten diese Geräusche keinen fröhlich beschwingten oder gar beschwipsten Klang, sondern waren völlig unpassend. Eine surreale Szenerie. Während die wichtigsten Köpfe der Stadt hier feierten, kühlte oben, wenige Meter von der Gesellschaft entfernt, der Körper des Mündels der von Weitershausens langsam aus.
«Wie soll ich das den Herrschaften erklären?», lamentierte Karl. «Das Haus ist voller Gäste. Alle warten gespannt darauf, wer in diesem Jahr das Stipendium erhalten wird. Da kann ich doch unmöglich einfach nach der Polizei schicken. Obschon – in so einem Fall ist man wohl dazu genötigt.» Karl hob verzweifelt die Hände in die Luft.
«Ich glaube, ich weiß, was wir tun könnten», ließ sich unerwartet Gerlinde wieder vernehmen, die so lange geschwiegen hatte, dass die beiden anderen nun erschrocken zusammenfuhren.
«So?» Das klang drohend, und die Köchin sah auch so aus, wie sie sich mit in die Hüften gestemmten Fäusten und verkniffener Miene vor dem Mädchen in Positur schwang. «Was musstest du auch ins grüne Zimmer gehen? Ohne deine elende Neugier wären wir jetzt nicht in diesem Schlamassel!», fuhr sie Gerlinde ungerechterweise an.
Karl schob die Köchin beiseite und fragte sanft: «Was können wir denn tun, Gerlinde?»
«Der Doktor ist unter den Gästen. Sprich ihn an! Er wird dich unauffällig in den oberen Stock begleiten, er ist stets diskret, das liegt an seinem Beruf. Bring ihn zu der Toten! Er wird wissen, was zu tun ist.»
«Ein sehr vernünftiger Vorschlag!», lobte Karl, griff nach dem Tablett mit den vorbereiteten Getränken und brach zum Rauchsalon auf.
«Ich brauche mehr Licht!», forderte der Kommissar Fritz Ganter, der eine Stunde später neben der Leiche stand. «Wer hat sie gefunden?»
Aus dem Erdgeschoss dudelte noch immer Tanzmusik zu ihnen herauf. Unpassend, fast beleidigend. Plötzlich verstummte sie. Offensichtlich hatte endlich jemand das Grammophon ausgeschaltet. Doch die unheimliche Stille, die nun folgte, war nicht weniger belastend.
Gerlinde schob sich, von eiserner Köchinnenhand gestoßen, zögernd vor. «Ich.»
«Aha!»
«Als ich die Gästezimmer noch einmal kontrollieren wollte.»
«Und?»
«Nun, es war eindeutig, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte. Ihr Arm war schon kühl. Außerdem …» Gerlinde wies anklagend auf das Heft des Messers, das sich wie ein Fleck vom weißen Mieder des Opfers abhob. Im hellen Licht der Lampen war nun auch der große Blutfleck gut zu erkennen. Ausgehend von der Stelle auf dem Mieder, hatte er sich als riesige Lache neben und unter dem zarten Fräulein ausgebreitet. Du meine Güte, dachte Gerlinde unwillkürlich, das kriege ich nie mehr aus dem Teppich raus.
Fritz Ganter machte sich ganz andere Sorgen. Er sah in die Runde und erkannte lauter bekannte Gesichter. Dresdens Prominenz war hier versammelt, nur gehobene Gesellschaft. Warum schickt man ausgerechnet mich zu diesem Fall?, fragte er sich entmutigt. Ich bewege mich nur ungeschickt in solchen Kreisen. «Als Sie sahen, dass es einen Mord gegeben hatte, was taten Sie dann?», erkundigte er sich tapfer weiter.
Die Versammelten stöhnten auf. Ein Mord! Ungeheuerlich!
«Ich schloss die Tür hinter mir und ging in die Küche, um es der Köchin zu erzählen. Danach hat der Hausdiener den Arzt der Familie …» Das Mädchen verstummte.
Der Tatortphotograph drängte sich durch die Versammelten, stieß mit seinem Stativ einige der Damen und Herren zur Seite. «Entschuldigung, ich muss hier durch!» Während Ganter ungerührt das Gespräch fortsetzte, begann der Mann seine Vorrichtung aufzubauen.
«Hm. Wann wurde Fräulein Loliot zum letzten Mal gesehen?
Hat jemand bemerkt, wann sie sich von der Gesellschaft entfernt hat?», versuchte Ganter einen professionellen Vorstoß auf ungefährlichem Gebiet.
Allgemeines Diskutieren setzte ein. Nach ausführlichem Hin und Her kam man überein, dass die junge Frau nach dem Wechsel von der Tafel in die Bibliothek nicht mehr in der Runde der Damen gesehen wurde.
Ein junger Mann drängte sich zwischen den Leibern hindurch und sank nach einem Blick auf die Tote schluchzend gegen den Türrahmen. Seine Schultern zuckten wild. Er barg sein Gesicht in den Unterarmen und ächzte leise den Namen des Opfers.
«Und wie ist Ihr Name?», erkundigte sich Ganter selbst für seine Ohren bemerkenswert unfreundlich. Er hatte eigentlich Mitgefühl in seine Stimme legen wollen – das war gründlich fehlgeschlagen.
«Das ist der Sohn des bekannten Lyrikers Franz Koch», zischte ihm Gerlinde hastig zu. «Xaver Koch.»
«Wie soll ich ihn erkennen können? Er sieht den Türrahmen an!», patzte Ganter zurück, dem allerdings weder Franz Koch noch dessen Sohn ein Begriff waren.
Der Photograph hatte inzwischen sein Stativ direkt über dem Körper der Toten in Position gebracht und die Kamera oben im Gestänge befestigt. Jetzt sah er sich suchend im Raum um, nahm ein Fußbänkchen und stellte es neben die dünnen Metallbeine, die nun an der Seite der jungen Frau auf dem Teppich standen, kletterte hinauf und richtete die Linse ein. Danach schoss er das erste Bild.