Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?. Martin Naumann

Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft? - Martin Naumann


Скачать книгу
besonders Textfest waren die Leute nicht. Und dann tönte immer lauter ein Ruf: „Gorbi, Gorbi“. Ausgerechnet der erste Mann der Sowjetunion, die ihre eigenen Probleme hatte, wurde zur Hoffnungsfigur. Allerdings auch, weil das Volk sehr wohl gemerkt hatte, dass Gorbatschow von der DDR-Führung als Trojanisches Pferd angesehen wurde. Einst konnte man vom großen Freund nicht genug lernen, das Siegen vor allem, da tauchte das Gespenst der Perestroika auf und plötzlich war das eine interne Sache der Sowjetunion. So intern, dass darüber nicht geredet wurde, und wenn doch einmal ein vorwitziger Genosse danach fragte, erfuhr er, dass die DDR ihre Perestroika längst hätte und die Sowjetunion nur nachziehe. Und so hatte Jochen Pellert, der erste Parteisekretär, mit leiser Genugtuung in der Stimme gesagt: „Aus dem Lehrling ist der Meister geworden.“ Größenwahn stand schon immer vor dem Absturz.

      Eine Frau bekam vor Aufregung einen Herzanfall. Der Rettungswagen sorgte für neue Unruhe. Die Geprügelten aber wurden nicht mit dem Rettungswagen abgeholt, sondern auf die bereitstehenden Lastwagen mehr geworfen denn geschoben.

      Trotzdem, das Volk machte sich Luft. Keiner sah misstrauisch zum Nachbarn, der ein IM sein konnte, einer von der Stasi, sollte er ruhig, hier bekam er die Meinung gratis. Überall standen diskutierende Gruppen, die den Polizeieinsatz verurteilten. Keiner wagte es oder hatte das Bedürfnis, Partei für den Staat zu ergreifen. Im Gegenteil, es fielen harte Worte: „Das haben sie von den Nazis gelernt.“ Conrad hörte, wie ein junger Mann mit Tätowierungen am Arm zu Frau und Kind sagte: „Diese Ratten, wenn es hart auf hart kommt, steche ich mindestens drei von denen ab.“ Natürlich richtete sich der Hass der Leute gegen die unmittelbare Gewalt und damit gegen die Falschen, denn die Polizisten waren nicht aus freien Stücken gekommen, viele waren Wehrpflichtige, Bereitschaftspolizisten, wer weiß, aus welchem Dorf sie kamen, und nun standen sie mit großen Augen in der großen Stadt einer tausendköpfigen Menge gegenüber und ihr Befehl lautete, für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

      Conrad war auf eine Bank gestiegen und so war er mit seinen 1, 82 m und der Kamera vor dem Auge nicht zu übersehen. Dabei hätte er sich am liebsten unsichtbar gemacht, denn er musste wie eine einzige Provokation wirken, nicht nur für die Polizei, sondern auch für das Volk, Doppelprügel waren angesagt. Zudem bemerkte Conrad, wie das Objektiv der Überwachungskamera immer wieder in seine Richtung geschwenkt wurde. Auf einmal befand er sich genau zwischen den Parteien. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf der Bank stehen zu bleiben. Jetzt sah er sie alle von vorn, links die Polizei mit ihrem grimmig blickenden Kommandeur und rechts die Demonstranten, welche die Polizei verhöhnten: „Geht nach Hause.“

      Doch trotz aller Angst, die ihn beschlich, siegte das Mysterium der Frechheit. Die Polizei hielt wohl nicht für möglich, dass sich irgendwer auf die Bank stellt und sie beim Prügeln fotografiert, also musste es einer von der Stasi sein. Fatal wäre es gewesen, wenn das Volk zu der gleichen Meinung gekommen wäre. Aber das wiederum dachte mit Recht, die Stasi würde sich nicht so offensichtlich zeigen. Einige Demonstranten warnten Conrad: „Vorsicht, dort wird ein Fotograf verhaftet.“ Und tatsächlich, unter ohrenbetäubendem Gebrüll wurde ein älterer Mann mit grauem Haar von zwei Polizisten mehr weggeschleift als geführt, um den Hals baumelte seine Kamera. Er hatte wohl den Fehler gemacht, heimlich fotografieren zu wollen.

      In dieser doch ein wenig unangenehmen Lage bekam Conrad plötzlich Verstärkung, ein junger Kollege stieg atemlos auf die Bank. „Nanu, wo kommst du her?“, fragte Conrad erstaunt und schielte dabei nach der Postenkette, die immer näher rückte. „Pellert hat in der Redaktion angerufen, in der Stadt käme es zu Zusammenstößen; das ist eben der Nachteil, wenn man als einziger aus der Fotoabteilung Telefon hat und so haben sie mich vom Kaffeetisch weggeholt.“ Dabei sah er mit großen Augen in die Runde und wagte zunächst nicht, die Kamera zu heben. Conrad aber wunderte sich, er selbst stand gewissermaßen illegal hier, während sein Kollege fotografieren sollte, was, das war klar, nämlich die Konterrevolution. Und für wen? Auch das war klar, nicht für eine Veröffentlichung, sondern für den Propagandasekretär der SED-Bezirksleitung. Zum Nachdenken blieb keine Zeit, doch Conrad war froh, jetzt Rückendeckung zu haben. Wie sich allerdings zeigen sollte, waren beide gänzlich ungeeignet für diesen Auftrag, indem sie nämlich nicht hinter der Polizei standen, sondern inmitten der Demonstranten und vor ihr.

      Insgesamt blieb die Strategie der Polizei undurchschaubar. Sie bildete eine Kette, mal dort, mal da, dann ging sie zurück, schließlich wurden die Demonstranten über den Karl-Marx-Platz gejagt. Ein Offizier schleppte ein junges Mädchen im Haltegriff ab. Darüber erregte sich eine Frau, die zur Strafe über eine Absperrkette gezerrt wurde. Conrad hätte das fotografieren müssen, aber er hatte einfach Angst. Nur als wenig später fünf Polizisten einen Mann zusammenschlugen, riss er die Kamera und drückte auf den Auslöser.

      Es trat nun eine gewisse Ruhe ein, überall bildeten sich Gesprächsgruppen und es wurde diskutiert. Der ganze Frust kam hoch, keine verstohlenen Blicke, ob jemand zuhörte, im Gegenteil, die Leute sollten zuhören! Auch die Polizei!

      Eine ältere Frau im abgetragenen Mantel wendete sich direkt an einen Polizisten und sagte: „Ich war Trümmerfrau hier, dort vorn fuhr die Feldbahn“, und sie zeigte zum Platz, „Ich habe die Steine mit abgeputzt, aus denen Neues gebaut wurde. Jetzt habe ich Angst, dass diese Steine wieder herausgebrochen und auf die Staatsmacht geworfen werden.“ Der Polizist war völlig überfordert, sie hatten nur mit Schild und Knüppel geübt und nicht mit Argumenten.

      Ein Demonstrant so um die Vierzig herum, der ebenso zufällig hier war wie viele andere, gab sich als Reserveoffizier zu erkennen. Er sagte, er wüsste nicht, was er tun sollte, wenn er einberufen würde, so eine Aktion könne er jedenfalls nicht mitmachen.

      Von Altenburg war eine kleine, rundliche Frau in die große Stadt gefahren, der Markttage wegen, wie sie sagte, in der Hoffnung, dass es da etwas Besonderes zu kaufen gäbe, vielleicht sogar Döbelner Salami; und nun sei sie mitten in den brutalen Polizeieinsatz geraten.

      Ein Mann im guten Tuchmantel erklärte, er sei durchaus nicht für den Kapitalismus, aber das hier sei auch kein Sozialismus. Honecker müsste vor der Fernsehkamera klärende Worte an das DDR-Volk richten und sagen, wie es weiter gehen soll. Es war erstaunlich, offenbar traute dieser Mann Honecker das zu, er setzte ihn damit nicht gleich der Führungsschicht, die sich weit vom Volk entfernt hatte.

      Es wurde dunkel und die Bildreporter glaubten, nun genug riskiert zu haben und eilten zur Redaktion, obwohl Sonnabend war und keine Zeitung gedruckt wurde. Aber sie wollten ihre Filme entwickeln und sehen, ob da wirklich alles festgehalten war. Mancher westliche Bildreporter wird wohl lächeln, wenn er an seine Kampfeinsätze bei Wackersdorf, Brockdorf oder sonst wo denkt. Aber hier war die DDR und in dem sozialistischen Musterland deutscher Prägung gab es keinen Aufruhr und keine Revolution. Somit hatten die beiden gewissermaßen Neuland betreten.

      Und doch wurde der Aufruhr indirekt zugegeben. Anders war die Tatsache nicht zu erklären, dass das eiserne Tor zum Redaktions- und Druckereigebäude verriegelt war. Es öffnete sich auch nach heftigem Klingeln nicht, denn die Konterrevolution könnte ja draußen stehen und dem öffnenden Pförtner eins über die Mütze hauen, um dann vielleicht Flugblätter zu drucken oder die Maschinen unbrauchbar zu machen, damit das wichtigste Organ der SED-Bezirksleitung empfindlich getroffen werde. Nein, da gab es Maßnahmen. Also, wer hinein wollte, musste von außen telefonieren, falls er einen funktionierenden Münzfernsprecher fand, und dann mitteilen, wann er vor der Tür zu stehen gedenke. Dann aber genügte einfaches Klingeln, kein konspiratives Signal. Der Verlagsdirektor öffnete höchstpersönlich; was wollte dieser Samstagabend im Betrieb?

      Mit dem eisernen Tor hatte es noch eine besondere Bewandtnis. Vor dem 17. Juni 1953 war der Zugang zu Redaktion und Druckerei frei. Doch als draußen die Konterrevolution marschierte und Schüsse fielen, musste ein besonderer Schutz her und dafür schien eine Mauer mit eisernem Tor am besten geeignet zu sein.

      Als die beiden in der Redaktion ankamen, herrschte eine Art Bunkermentalität. Einige leitende Redakteure saßen fast im Dunklen, nur beim Schein einer kleinen Tischlampe, damit der imaginäre Gegner denken sollte, die Redaktion sei nicht besetzt. Ja wieso war sie denn überhaupt besetzt? Die Zeitung wurde erst am Sonntag gemacht.

      Ein Chef und zwei Abteilungsleiter stürzten sich auf die Reporter, als kämen sie von der Front. Conrad nahm sich kein Blatt


Скачать книгу