Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?. Martin Naumann
die Entlüftung inzwischen funktioniert.
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Vielleicht hätte sich Meisel statt um Kugellager um die neue Oberschicht kümmern sollen, überlegte Conrad, die allerdings nicht neu war, sondern nur aufpoliert und damit glänzend angepasst, die glatten Gesichter, ideologisch geschult in Berlin und Moskau und nun in Bonn. Das war der Lauf der Dinge, keinem konnte man übel nehmen, dass er sich anpasste, jeder verkaufte eben seine Haut so teuer wie möglich. Kooperierte Moskau jetzt nicht mit den Amerikanern, weil diese sonst die neue Weltraumstation nie zusammenbekämen? Dann müssten die Russen folgerichtig auch ihre ehemalige Parteihochschule für die Managerschulung hergeben, denn ihre Absolventen waren jetzt die besten Leute. Das hatte sich bis in die Führungsetagen herumgesprochen, wo noch an salonfähigen Modellen für die neuen Subchefs gebastelt wurde, die für die Drecksarbeit bestimmt waren. Bei den Empfängen waren sie schon von weitem zu erkennen, an ihrem gespannten Blick, mit der Aufmerksamkeit eines Spaniels, dem kein Signal seines Herrn entgehen durfte. Sie lachten an den richtigen Stellen und sie hörten damit auf, sobald die neuen Vorgesetzten aufgehört hatten. Wenn die neuen Chefs etwas erzählten oder gar erklärten, bekamen die Cheflehrlinge den Blick japanischer Abiturienten und das allgegenwärtige Lächeln legten sie nur zusammen mit Schlips und Schuhen ab. Und sie legten noch etwas anders ab, mit dem „Genossen“ auch das „Du“, um in einer wunderbaren Metamorphose zum „Herr“ und „Sie“ zu gelangen. „Also bitte“, musste der verdutzte Conrad hören, „mit der Duzerei ist nun Schluss, ich bitte mir ‘Sie’ aus.“ Da war auch in dieser Hinsicht die Wende vollzogen.
Natürlich mussten sie sich erst einarbeiten. So hatten sie anfänglich falsche Vorstellungen davon, mit welchen Geschenken man die wohlgeneigte Aufmerksamkeit erwecken konnte. Da war nichts mehr mit billigen Kugelschreibern, Notizbüchern oder dem Tand, der jetzt sogar auf einem Kindergeburtstag mit Verachtung gestraft worden wäre. Nein, wenn schon ein Schreibgerät, dann ein Füllfederhalter, der umso besser schrieb, je höherkarätiger seine Goldfeder war. Es war ein Geben und Nehmen, an das sich die Neuen erst gewöhnen mussten. Die Journalisten wurden nicht etwa gekauft, wie man das hätte annehmen können, indem ihnen große Versandhäuser oder Autohersteller einen Rabatt von 15 Prozent einräumten, nein, das öffnete lediglich den Blick für die Größe des Unternehmens, für seine Leistungsfähigkeit und erleichterte so manche Formulierung. Und die Neuen lernten erstaunlich schnell die differenzierte Kritik. Während sie zum Beispiel ein Theaterstück nach Herzenslust zerreißen konnten und als unbestechliche Journalisten in Kauf nahmen, dass ihnen der Intendant zur Strafe die Freikarten verweigerte, hielten sie sich bei den von ihnen eigenhändig getesteten Autos merklich zurück. Natürlich wurden da auch schonungslos die Mängel aufgedeckt, etwa, dass der Aschenbecher nicht ergonotmetrisch genug geformt sei oder der Motor so leise liefe, dass ihre vom Motorenlärm des Trabant und Wartburg verdorbenen Ohren glaubten, er sei ausgegangen. Da verglichen sie das Auto mit einem schnurrenden Kätzchen, das beim Gasgeben zum Tiger wird, solches hatten sie auf vielen unentgeltlichen Kilometern aufopferungsvoll getestet.
Und sie fühlten sich geschmeichelt und bestätigt, dass die Bonner Minister, alte wie neue, eine förmliche Sucht in sich verspürten, die östlichen Redaktionen mit ihren Besuchen zu erfreuen, auf dass diese aus erster Hand die reine und unverfälschte Politik erführen. Dies nahmen sie mit großen glänzenden Augen auf und die Politiker konnten sicher sein, dass alles, was sie gesagt und gemeint hatten, auch so gedruckt wurde. In Ostland waren sie sicher vor unangenehmen Fragen, die ihnen im Westen der Heimat als Knüppel zwischen die Beine geschoben wurden, über die so mancher gestolpert war.
Doch Conrad verwarf den Gedanken wieder, dass sich Meisel mit dieser Metamorphose beschäftigen könnte, wahrscheinlich würde das Meisel nicht abgenommen, denn zu diesem Spiel gehörten zwei, die Angepassten und diejenigen, die dies im Interesse des Geschäftes hinnahmen.
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Von seinem Schreibtisch aus konnte Conrad die Straße einsehen. Eine Blechlawine, stehen, im Schritt fahren, stehen. Parkende Autos, halb auf den schmalen Fußwegen, im Halteverbot, Anlieferer in der zweiten Reihe, dazwischen die Straßenbahn. Alles wurde von einem gleichmäßig brodelnden Lärm überlagert, in dem sich die hilflosen Signale eines Rettungswagens verloren. Das war die Anarchie des Straßenverkehrs. Hinzu kam, dass jetzt jeder ein Schild hinstellen konnte, um eine Straße aufzuhacken. Verschiedene Firmen stellten gegensätzliche Leiteinrichtungen auf, sodass diese Straße entweder gar nicht befahren werden konnte oder nur entgegengesetzt zur Einbahnstraße. Auch das war ohne weiteres möglich, denn die Polizei stand diesem Phänomen ebenso hilflos gegenüber. War dies das Gegenteil von Planwirtschaft?
Sollen sie sich durchwühlen, dachte Conrad und war in diesem Punkt nicht böse auf seinen Feierabend zu vorgerückter Stunde. Eine Tageszeitung wird vormittags geplant, nachmittags zusammengestellt und wenn sie etwas auf sich hält, kann noch bis 24 Uhr nachgeschoben werden, zum Beispiel ein Europapokalspiel, das der Leser am Frühstückstisch braucht, obwohl er es viel besser am Abend vorher im Fernsehen verfolgt hat.
Es war ziemlich spät, als er endlich die Heimfahrt antreten konnte. Schade nur, dass der Tag schon so gut wie zu Ende war. So machte er sich keine Hoffnung, dass er noch seine jüngere Tochter und die Enkelkinder antreffen würde, die waren längst daheim, „bei mein Papa“, wie der kleine Fratz immer sagte. Die Große, sofern man bei fünf Jahren von groß sprechen kann, hatte heute Klavierunterricht gehabt, anschließend kamen sie immer zu Besuch, leider sah er sie meist nicht. Seine Enkelin hatte Musik im Blut und weil die Großeltern kein Klavier besaßen, spielte sie immer auf der Tischkante vor, wobei sie sich genau so verspielen konnte und den Fehler mit ärgerlichem Gesichtsausdruck verbesserte.
Jetzt kam er zügig voran und unterwegs musste er wieder über diesen Meisel nachdenken, der dem Aufschwung Ost auf der Spur war. Aufschwung Ost, am liebsten hätte ihm Conrad gesagt, dass er sich da beeilen müsse, bevor auch der letzte Betrieb schloss. Aber das hatte er sich verkniffen, weil Meisel das sicher selbst wusste, ein Wirtschaftsjournalist konnte nicht so blind sein wie die Regierung.
Als er durch das für ihn offenstehende Gartentor fuhr, schüttelte er den Tag ab, dieses Haus erschien ihm wie eine Burg. Die Burgherrin hörte den Motor und setzte den Tee auf.
Erika Conrad war Sekretärin gewesen und nun arbeitslos, weil das Kombinat, für das sie gearbeitet hatte, nicht mehr existierte. Sekretärinnen wurden sogar gesucht, aber bitte jung und dynamisch, höchstens vierzig. „Das einzige, das auf mich noch zutrifft, ist dynamisch, da würde ich den Herren, die solche Forderungen stellen, noch etwas vormachen, aber das langt wohl nicht“, hatte sie auf dem Arbeitsamt gesagt und die Suche aufgegeben. So war sie eine von den 50 Prozent Frauen, die nach der Wende ihre Arbeit verloren hatten. Sie kam ihm entgegen, begrüßte ihn mit einem Kuss und sagte: „Die Kinder sind gegangen, schon vor zwei Stunden, aber Mutter ist da, sie will uns wieder mal was Gutes tun, rede ihr die geplante Werbeverkaufsfahrt bloß aus, auf dich hört sie besser.“
Inzwischen hatte der Junior von seinen Fußballübungen in der Wiese abgelassen, das Gartentor geschlossen und sagte: „N’abnd, Paps, du kommst wieder mal spät, also Journalist werde ich bestimmt nicht.“ Dabei schlenkerte er ungelenk seine Arme, er war fünfzehn, schon einsachtzig und noch kein Ende abzusehen. Dann protestierte er: „Also ich find’s stark, wenn Oma was mitbringen will, red’s ihr nicht aus, ich könnte einiges gebrauchen.“
„Du kannst alles gebrauchen“, sagte sein Vater und sie gingen zusammen ins Haus.
Oma Hertha war der gute Geist der Familie und die Stimme des Volkes, wie Conrad behauptete. Immer noch war sie eine äußerst resolute alte Dame, welche die meiste Zeit damit verbrachte, nach preisgünstigen Geschenken für die lieben Kleinen Ausschau zu halten. Erst gab es nichts, jetzt zuviel.
Oma Hertha schätzte den Rat ihres Schwiegersohnes, obwohl er sie einmal gekränkt hatte, als er behauptete, sie habe eine Kaffeephilosophie. „Das klingt ja gerade so, als ob ich aus dem Kaffeesatz lesen würde.“ Aber sie war eine Kaffeeliebhaberin wie die meisten Sachsen seit der Bachschen Kaffeekantate. Die Wirtschaft eines Landes beurteilte sie zuerst