Der Wende-Journalismus. Verraten und verkauft?. Martin Naumann
zwischen 1945 und 1949 enteigneten Betriebe von den Alteigentümern zurückgekauft werden konnten. Nein, man verkaufte sie lieber für eine symbolische Mark an ausländische Investoren, welche den Betrieb in kürzester Frist ruinierten. In den Treuhandausschüssen saßen nun mal die alten Kader und die hatten etwas gegen die Alteigentümer, die Kapitalisten, obwohl diese investieren wollten. Mit der wiederauflebenden Tradition wären es sichere Arbeitsplätze gewesen. Aber nein, wenn schon Untergang, dann gründlich. Meisel hatte da Informationen und keine Hoffnung, dass sich daran etwas ändern könnte.
Und während er missmutig nun tatsächlich im Stau hing, dachte er, dass es interessanter wäre, wenn er sich bei seinen Ostkollegen umsehen würde. Außerdem traf hier der seltene Fall zu, dass er einen dienstlichen Auftrag mit privaten Recherchen verbinden konnte, obwohl seine Frau das nicht wünschte. „Erledige deinen Auftrag, aber lass die Vergangenheit ruhen“, bat sie ihn. Doch er hatte geantwortet: „Solange die Vergangenheit dich nicht zur Ruhe kommen lässt, verfolgt sie auch mich.“
Der Stau hatte sich aufgelöst und er kam an die ehemalige Grenze mit ihrem verzweigten Abfertigungssystem. Und obwohl die Fenster der flachen Gebäude dunkel in die Nacht gähnten, beschlich ihn wieder dieses merkwürdige, hilflose Gefühl aus DDR-Zeiten, wenn er, selten genug, diese Grenze hatte passieren müssen, sei es als Transitweg nach Berlin oder zur Leipziger Messe. Bei den aufreizend genauen Kontrollen war er äußerlich immer ruhig gewesen, das fehlte noch, vor denen Angst zu haben. Aber innerlich zitterte er, sie konnten ihn zurückschicken oder verbotene Literatur finden, ein Journalist war immer verdächtig. Peter Meisel hatte sich in der DDR stets beobachtet gefühlt und eines Tages auch voller Befriedigung bemerkt, dass sie, wer das auch immer gewesen sein mochte, sogar die elektrische Zahnbürste in seinem Hotelzimmer untersucht und in Unkenntnis moderner Technik nicht wieder ordentlich zusammengebracht hatten. Beim Telefonieren glaubte er immer einen Klick zu vernehmen, der da nicht hineingehörte, und so überlegte er sich jeden Satz, vor allem, wenn er mit seiner Frau sprach, die voller Sorge um ihn war und ständig befürchtete, er könne verhaftet und eingesperrt werden. Jetzt nun, wo auch sie hätte mitkommen können, ließ sie ihn trotzdem allein fahren. Nach Leipzig wollte sie nicht wieder, obwohl es ihre Geburtsstadt war. Meisel hütete sich, sie zu drängen, ja er bemühte sich sogar, die Stadt nicht unnötig zu erwähnen.
Endlich saß er in seinem Leipziger Hotelzimmer. Bei den Preisen haben sie bereits Westniveau, dachte er, nahm den Hörer ab, um ihr seine glückliche Ankunft zu melden. Natürlich war Sylvia am Apparat, ja, Doris gehe es gut und das klang so, als sei das ihr Verdienst; dann war Doris am anderen Ende. Er wollte ihr etwas Liebes sagen, aber Sylvia stand sicher wie eine Gouvernante dabei, da zügelte er sein Gefühl.
Gleich am nächsten Morgen suchte Meisel seine östlichen Kollegen auf, um nach einem Betrieb zu fragen, bei dem es aufwärts ging. Das hätte er auch bei der Treuhand erfahren können, aber so konnte er sich gleich bei den Journalistenkollegen umsehen, da war die Frage nach einem Vorzeigebetrieb ein unverfänglicher Anknüpfungspunkt. Dabei wollte er auch ergründen, wie sie den gewaltigen Umschwung geschafft hatten. Er hatte sich Ausschnitte von ostdeutschen Zeitungen kommen lassen, vor und nach der Wende. Die gleichen Namen, aber ein Unterschied wie Feuer und Wasser, Himmel und Hölle, Schwarz und Weiß. Dabei war ihm die naive Anwandlung überkommen, dass bei den Journalisten vielleicht ein kleines Schuldbewusstsein vorhanden wäre, dass sie flüchtig über einen Berufswechsel nachgedacht hätten, etwa, dass sie für den bösen Kapitalismus, den sie in ihren Texten angeprangert hatten, keine Zeile schreiben würden. Vielleicht würden sie sich wenigstens bekennen zu ihrer wenig leserfreundlichen, einseitigen Betrachtungsweise, zu der sie die Umstände gezwungen haben mögen. Doch nichts da, immer wenn er tiefer loten wollte stieß er ins Leere, es war so, als ob er ein Stück nasse Seife zu fassen versuchte. Wende? Mein Gott, das lag doch schon eine Epoche zurück, es galt, nach vorn zu sehen. Kein Wunder, sie hatten immer in Epochen gedacht auf dem Irrweg zur klassenlosen Gesellschaft.
Meisel suchte das Gespräch mit den Autoren, dabei hatte er abgelichtete Kommentare und Leitartikel aus vergangener Zeit mitgebracht, war aber stets abgeblitzt. Leider, die Tagesproduktion würde rufen und sie führten ihm die neue Computertechnik vor, voller Stolz, wie schnell sie sich eingearbeitet hätten, das wäre doch eine Leistung. Und das sah er tatsächlich fast mit Neid, da wurde perfekt gearbeitet. Solch eine moderne Technik hatten sie noch nicht einmal – alles vernetzte Computer. Jede Zeitungsseite konnte einschließlich der Fotos komplett auf dem Bildschirm montiert werden. Die Texte der Agenturen liefen direkt in die Spalten hinein, wurden redigiert und auf die erforderliche Länge gebracht. Das war Hochtechnologie, da war viel Geld von West nach Ost geflossen, natürlich nicht umsonst. Und Meisel hatte die Worte jenes Verlagsmanagers noch im Ohr, der anlässlich der Übernahme einer ostdeutschen Zeitung gesagt hatte: „Dieser Zuschlag durch die Treuhand ist wie eine Genehmigung, Geld zu drucken.“ Aber der Kreis, vor dem er solches sagte, war sehr klein und er dachte dabei nicht an den redaktionellen Teil und die seiner Meinung nach viel zu niedrigen Zeitungspreise, sondern er dachte an das Anzeigengeschäft. Und da noch nie zuvor in Ostdeutschland soviel angeboten und verkauft worden war, bedeutete das ein außerordentlich glänzendes Geschäft.
2
Während Meisel annahm, dass die neue Technik perfekt funktioniere, ärgerte sich ein paar Türen weiter der Bildchef Carl Conrad mit einem nicht unwichtigen Teil dieser Technik herum. Gleich früh hatte er mit tränenden Augen in der ozongeschwängerten Luft des Bildraumes zwei Stunden vor dem Computer gehockt und Bilder ausgewählt, die von den Agenturen aus aller Welt abgesendet worden waren: Krieg und Katastrophen, Skandale, Protokolle, aufreizende Mode und natürlich Sport, der vor allem aus Tennis und Fußball bestand; 400 Bilder, die Medien waren unersättlich. Doch vieles, was unter Lebensgefahr aufgenommen worden war, was von fernen Bildchefs ausgewählt und von der Technik auf die Reise um den ganzen Erdball geschickt wurde, landete dann im Papierkorb der Redaktion.
Das wäre kein Grund für Ärger gewesen, daran hatte sich Conrad gewöhnt. Aber dass der Computer gleich mit drei Fehlern gezeigt hatte, wer hier Herr im Hause war, das hatte ihn doch aus der Fassung gebracht. Erst war er abgestürzt. Ein angekommenes Foto, das er ins System schicken wollte, hatte sich dabei in merkwürdigem Zick-Zackmuster aufgelöst. Waren Viren im Spiel? Die Zeitungen peitschten den Virus Michelangelo hoch, worüber die Hersteller von Anti-Virenprogrammen nicht gerade böse waren. Doch Viren oder nicht, damit vergeudete man nur Zeit. Er war verärgert, zumal es die Systembetreuer scheinbar nicht eilig hatten. Als sie endlich kamen, ließen sie einige Unsicherheiten bei der Diagnose erkennen, bevor es ihnen gelang, das Gerät wieder ins Computerleben zurückzurufen. Kaum war das geschafft, stellte er fest, dass einige der angekündigten Fotos fehlten. Er rief den Funkraum der Agentur an, wo die Kollegen versicherten, alles richtig auf die Reise geschickt zu haben. Er flehte sie an, wenigstens das Foto vom Eisenbahnunglück noch mal zu senden, weil danach dringend gefragt wurde. Dann hatte er ein Porträtfoto vor sich, der SPD-Vize, unzweifelhaft mit dieser Haarpracht, Conrad hatte ihn selbst einmal fotografiert, er war es, aber er war es auch nicht. Die große Geheimratsecke glänzte auf der falschen Seite und der Anzug war auch verkehrt geknöpft. Er brauchte sich den Laserausdruck nicht erst durch die Rückseite anzusehen, das Bild war seitenverkehrt. Das konnten sie doch mit ihm nicht machen, wollten ihn denn heute alle ärgern? Also wieder den Funkraum angerufen, die Kollegen waren beleidigt, sie würden die Bilder nicht seitenverkehrt senden, was aber nichts an der Tatsache änderte. Inzwischen spuckte der Drucker Bild um Bild aus, der Bildchef beäugte sie misstrauisch, einem Model im futuristischem Aufputz sah man nicht an, ob es richtig oder gespiegelt war. Halt, da kam wieder ein Bild, eine Straßenszene, doch die Werbetexte glänzten in Spiegelschrift. Da verlangte er voller Ingrimm den Bildchef der Agentur, Conrad beschwerte sich nicht, sondern er wählte die feinere Art, die manchmal besser war und bat, dass alle Bilder in Zukunft einen Schriftzug tragen müssten, ein Transparent, einen Straßennamen oder ähnliches. Wie das? Ja, weil er sonst nicht erkennen könne, ob die Bilder gekontert ankommen. Da wurde ein Wirbel ausgelöst, die Experten standen zunächst vor einem Rätsel. Erst nach Tagen fanden sie den Fehler: bei einigen Empfangssystemen hatte der Computer links mit rechts verwechselt.
Natürlich musste sich alles erst einspielen, das war mit jeder neuen Technik so, aber Conrad war kein Techniker, sondern Journalist,